Was im Dunkeln liegt
1
Marjorie schwimmt jeden Morgen im Pool der Frauenfreizeiteinrichtung; gleichmäßige Züge, bei denen ihr Gesicht über der Wasseroberfläche und ihr Haar trocken bleibt. Wir gehen beide schon seit geraumer Zeit dorthin, sodass Marjorie annimmt, wir wüssten alles übereinander. Weil wir plaudern, während wir uns umziehen oder zwischen den Bahnen eine Atempause einlegen: Denn auch ich bin eine Frau geworden, die schwimmt, ohne ihr Haar nass zu machen.
Marjorie ist Witwe und verbringt ihre Abende außerhalb der Freizeiteinrichtung vor dem Fernsehapparat. Sie fragt mich immer, ob ich diesen oder jenen Film gesehen hätte, und lässt sich dann, ungeachtet meiner Antwort, lang und breit über den Inhalt aus.
»Das war wirklich erstklassig«, sagt sie, »wie sie die Leiche in dem Schneemann versteckt haben. Ein absolut genialer Mord.« Sie hält inne, um auf meine Antwort zu warten.
Ich könnte eine Menge dazu sagen. Wie zum Beispiel, dass Mord nicht genial ist. Er ist Schmirgelpapier im Mund – ein Eiswürfel entlang deiner Wirbelsäule. Er ist Angst, die du schmecken und fühlen kannst. Ein Gewitter, das in deinem Kopf aufzieht.
All das spreche ich nicht aus. Stattdessen sage ich: »Ich schau mir keine Krimis an.«
Marjorie schenkt mir ein wissendes Lächeln. Winzige Wellen schwappen um uns herum, ein Nachhall der gekonnten Kraulrollwende einer anderen Schwimmerin. Marjorie verdreht die Augen himmelwärts. Wozu die Eile?, drückt ihre Miene aus. Ich frage mich, ob Marjorie je im Wasser herumgespritzt oder ein Wettschwimmen veranstaltet oder gar nackt gebadet hat.
»Manchmal muss ich auch ausschalten«, sagt sie. »Es bringt nichts, sich etwas anzusehen und danach die halbe Nacht wach zu liegen und auf jedes Geräusch zu hören.«
Ich merke, dass sie noch immer über Fernsehfilme spricht. Sie glaubt, ich sei zu ängstlich, um mir abends allein Filme anzusehen. Ich lasse sie in dem Glauben.
»Noch zwei Bahnen«, sage ich, »dann gehe ich raus.«
Wir schwimmen zusammen los, doch schon bald lasse ich sie hinter mir zurück – trotz der gemessenen Brustzüge, bei denen nie die Gefahr besteht, dass mein gefärbtes Haar vom gechlorten Wasser überspült wird. Mein Friseur hat mich diesbezüglich gewarnt. Chlor ziehe die Intensivtönung heraus – meine »semi-permanente Haarfarbe«, wie er es nennt – und lasse deshalb das Grau schneller wieder zum Vorschein kommen. Vor fünfunddreißig Jahren wäre ich nie auf die Idee gekommen, mir Gedanken um Intensivtönungen zu machen. Wie ich auch nicht auf mein Gewicht achten musste oder darauf, meinen runzeligen Hals unter einem Schal zu verbergen. Alles verändert sich.
Ebenso, wie mein Taillenumfang zugenommen hat, haben sich auch die Abstände zwischen den Gewittern in meinem Kopf vergrößert. Ihre Heftigkeit hat abgenommen, ihr tödliches Gleißen ist milder geworden. Ich hatte
geglaubt, Cat Stevens’ Songtext würde sich als prophetisch erweisen – Wherever I am, I’m always walking with you … Das ist heute nicht mehr so. Jeder Tag ist in einen neuen Tag übergegangen, in einen Alltag mit nur noch gelegentlich auftretenden Gewittern. Und auch das »gelegentlich« ist immer seltener geworden.
Vor einigen Jahren fuhr ich an dem Haus vorbei, und es sah völlig anders aus. Neue Fenster, elegante schmiedeeiserne Tore; an einer Seite hatte man sogar einen Wintergarten angebaut. Bettis Wood ist ein Wald mit einem Naturlehrpfad geworden. Mit Parkplatz und Picknicktischen. Wie hätten wir das verachtet. Ich hielt nicht an, aber ich konnte mir vorstellen, wie es dort aussah. Gekennzeichnete Spazierwege und kommunale Kunstprojekte. Kleine Schilder, die das Wegwerfen von Abfall, Geisterjagd oder Unzucht auf dem Waldboden verbieten. Gut, ich gebe es zu: Die letzten beiden Punkte habe ich erfunden.
Das Haus, in dem Danny lebte, ist völlig verschwunden. Jetzt befindet sich an der Stelle ein ordentliches Quartett aus Doppelhaushälften. Alles verändert sich. Selbst Cat Stevens ist nicht mehr Cat Stevens.
Marjorie holt mich im Umkleideraum ein. Wir wenden unsere Blicke diskret voneinander ab, lassen keine Bemerkung fallen über unsere gemeinsame Vorliebe für Unterwäsche von Marks and Spencers. Stattdessen plaudert Marjorie über ihren neuesten Gatten. Er hat gerade Geld für ein neues Auto und eine neue Einbauküche springen lassen. »Er würde alles für unsere Lyn tun«, sagt sie.
Alles für die Liebe. Genau das erzählen uns die
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