Was im Dunkeln liegt
Lebenserfahrung verfügen und die einander über alle möglichen Dinge beraten können, von der Einkommenssteuer bis hin zur Geranienzucht. Aber dieser Teil meines Lebens ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln, und ich würde auch nicht im Traum daran denken, mich meinem Bruder anzuvertrauen, geschweige denn meiner Schwester.
Meine Schwester gehört zu jenen Menschen, mit denen man zunächst viel Nachsicht übt, weil sie doch erst sechs Jahre alt sind, und eines Tages wird einem dann schlagartig bewusst, dass man es immer noch tut, obwohl sie bereits munter auf die fünfzig zumarschieren. So war es immer zwischen meiner Schwester und mir gewesen. Sie war von klein auf daran gewöhnt, keine familiäre Verantwortung übernehmen zu müssen, und gelangte dadurch zu der Überzeugung, automatisch davon befreit zu sein. Abgesehen davon gibt es in ihrem Leben ständig irgendwelche Katastrophen: Probleme mit einem Mann oder Probleme, weil sie keinen Mann hat – dann gab es diese fixe Idee, in Spanien ein neues Leben zu beginnen, was allerdings niemals realisiert wurde, danach das Trauma ihrer ersten Scheidung, das Drama ihrer zweiten …
Aufgrund irgendeiner unerklärlichen Wahrnehmungstrübung meiner Familie hat die absolute Unzuverlässigkeit meiner Schwester bei jeder Art von Krise außer mir nie jemanden verärgert. Die Rolle meiner Schwester war
es stets, die Jüngste zu sein. Ich war diejenige, auf die sich unvermeidlich alle Erwartungen konzentrierten, trotz der Tatsache, dass ich, zumindest in den Augen meiner Eltern, das schusselige, emotional auffällige Kind war, auf das man sich nicht ganz verlassen konnte – ein eklatanter Widerspruch, der offenbar außer mir auch keinem auffiel.
Aber vielleicht kann mir meine Familie in der gegenwärtigen Situation doch irgendwie nützlich sein, weil ich mich urplötzlich an meinen Vater und das Gartenhausprojekt erinnere. Meine Mutter hasste unser baufälliges Gartenhäuschen, und so versprach mein Vater nach langem Zögern, es durch ein neues zu ersetzen – doch irgendwie wurden die Pläne, die er zu diesem Zweck machte, immer wieder auf geheimnisvolle Weise durchkreuzt. Er bestellte Material, bekundete regelmäßig seine besten Absichten, und trotzdem wollte das neue Häuschen einfach nicht Gestalt annehmen. An dem Wochenende, das schließlich für den Baubeginn dieses lang erwarteten Projekts festgelegt worden war, wurde er in letzter Minute unerklärlicherweise telefonisch in die Arbeit bestellt, und die Sache musste erneut verschoben werden. Ich habe mich oft gefragt, wie es ihm gelungen war, diesen Telefonanruf zu arrangieren – oder vielleicht waren die Götter ja wirklich auf seiner Seite. Das neue Gartenhäuschen wurde jedenfalls nie gebaut.
Und genauso wird es sich mit meinem Besuch bei Mrs Ivanisovic verhalten. Nach dem Frühstück formuliere ich meine Antwort.
Liebe Mrs Ivanisovic,
es war eine nette Überraschung, von Ihnen zu hören, und ich hoffe, Sie sind wohlauf. Ich würde Sie sehr gern besuchen,
aber leider ist mir das in den nächsten Wochen aufgrund diverser Termine nicht möglich. Da Sie offenbar am Telefon Schwierigkeiten mit dem Hören haben, werde ich Ihnen ein paar Zeilen schreiben, wenn mein Terminkalender nicht mehr so voll ist. Ich freue mich auf ein Wiedersehen in der nahen Zukunft.
Mit freundlichen Grüßen
Katy Mayfield
Katy? Gut, warum nicht?
In Wahrheit steht kaum etwas in meinem Terminkalender, das nicht im Bedarfsfall verschoben werden könnte. Ich bin vor achtzehn Monaten, als meine Mutter starb, in den Vorruhestand gegangen. Ich kann also frei über meine Zeit verfügen, was bedeutet, dass ich heute Nachmittag nach Herefordshire fahren, meinen Wagen abstellen und den Fußweg entlangspazieren kann, der vom Haus in den Wald führt – vorausgesetzt, ich will das wirklich.
Jahrelang hatte ich mir vorgemacht, ich könne tun und lassen, wie es mir beliebt, doch in Wirklichkeit sind die Fäden der Marionette erst in den letzten achtzehn Monaten gekappt worden – bis dahin war es immer meine Aufgabe gewesen, mich für meine Eltern auf Abruf verfügbar zu halten. Ich habe nie ein tiefes Gefühl für sie entwickelt – eine zu hohe Mauer aus Vermutungen und Geheimnissen trennte uns –, aber ich war gefügig und gefangen durch die geografische Nähe und komplexe Loyalitätsgefühle. Vielleicht bin ich niemals die vage Empfindung losgeworden, meinen Eltern etwas schuldig zu sein,
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