Was Liebe ist
neigt die Urne. Der erste Offizier schlägt die Glocke an. Der Ton ist dünn hier draußen auf dem Meer. Als sich die Öffnung der Urne zum Wasser neigt, weht erste Asche heraus. Der Wind trägt den hauchdünnen Schleier davon. Das Blau des Himmels wird dadurch kaum getrübt. Drei weitere Glockenschläge ertönen, während die Asche aus der Urne rieselt. Dann sind die sterblichen Überreste seiner Tante Lisa der Luft und dem Wasser anvertraut.
Anke hat zwei Körbchen mit Blütenblättern vorbereitet, die sie den Kindern gibt. Die beiden stellen sich an die Reling. Der erste Offizier zieht ein dünnes Seil durch eine dafür vorgesehene Öse an der Urne und lässt sie ins Wasser hinab. Die Kinder streuen die bunten Blütenblätter hinterher. Die Urne versinkt. Sie wird sich in ein paar Tagen im Meerwasser auflösen. Wo sie versunken ist, treiben die Blütenblätter auf dem Wasser.
Zum Abschluss der Zeremonie ertönt dreimal das Schiffshorn. Der Motor wird angelassen, und das Schiff umkreist die Bestattungsstelle. Er steht mit Anke und den Kindern an der Reling und sieht dorthin, wo die Urne versunken ist. Die Blütenblätter sind in den Wellen nicht mehr zu erkennen. Als er Tante Lisa vor zwölf Jahren in Noordwijk besucht hat, ist sie schwimmen gegangen. Vom Strand aus hat er versucht, sie in den Wellen zu entdecken. Irgendwann musste er sich eingestehen, dass er den Sichtkontakt verloren hatte. Diesmal ist es nicht nur der Sichtkontakt.
Aber ihre Geschichte ist in ihm. Manchmal denkt er, sie war es immer schon. Die Geschichten sind in uns, ob wir wollen oder nicht, und werden zu Träumen oder Alpträumen. Das Schiff hat seine Runde um die Bestattungsstelle beendet und nimmt Kurs auf die Küste. Er schaut in den blauen Himmel, der die Asche seiner Tante aufgenommen hat. Was ist mit Zoes und seiner Geschichte? Niemand außer ihm kennt sie. Sie ist ein Teil von ihm, der sich mit seiner Asche auflösen wird.
Er betrachtet seine Kinder, die sich mit ihren Büchern in die Sonne auf Deck gesetzt haben und lesen. Was empfindet er bei der Vorstellung, die beiden könnten jemals – aufgrund welcher Verschlingung des Schicksals auch immer – zu einem Liebespaar werden? Entsetzen? Moralische Empörung? Ekel? Eigentlich nichts von dem. Und doch möchte er es aus tiefster Überzeugung nicht. So ist es einfach.
Am Schiffsheck finden sich Möwen ein und kreisen nervös über dem von der Schraube aufgewühlten Wasser. Der Himmel, eben noch Tante Lisas letzte Ruhestätte, geht schonwieder zur Tagesordnung über. Noch trauern alle auf dem Schiff, aber wenn sie erst einmal an Land sind, wird sich Tante Lisas Geschichte im Alltag auflösen wie ihre Asche in der Luft. So sollte es nicht sein. Nicht bei dieser Geschichte, denkt er. Sie sollte überdauern. Die Erinnerung muss bleiben, ganz gleich, was sie für die Nachgeborenen bedeutet.
Anke sitzt nachdenklich auf einer Bank.
»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen«, sagt er.
»Eine Geschichte? Was für eine Geschichte?«
»Eine traurige Geschichte. Eine Liebesgeschichte.«
Informationen zum Buch
Herbst 1999. Roland Ziegler – ein kluger, selbstbewusster Mann Mitte dreißig – reist als Mitinhaber eines Familienunternehmens nach Berlin, um an einer Konferenz über die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs teilzunehmen. In einem Café lernt er Zoe kennen, eine junge Jazz-Sängerin, die ihm abends bei einem Konzert einen klassischen Song widmet: ›You don't know, what love is.‹ Zoe begleitet Roland nach Amsterdam, und in einem billigen Hotelzimmer im Rotlichtviertel wird sie für ihn zu seiner großen Liebe. Befreit von alltäglichen Zwängen und weit entfernt von Zoes viel älterem Freund Piet erleben sie eine vorher nie gekannte Nähe. Doch die Familie, die Firma und deren Vergangenheit melden sich bald zurück. Zoe ist plötzlich verschwunden, und von einer in Holland wohnenden Tante erfährt Roland erstmals den Grund für die Trennung seiner Eltern in den sechziger Jahren.
Was ist Liebe? Können wir lieben, ohne unsere Vergangenheit zu kennen? Eindringlich und klar erzählt Ulrich Woelk von zwei sehr gegensätzlichen Menschen, die eines verbindet: Angehörige einer Generation zu sein, die den Versprechungen der großen Gefühle misstraut. Und die am Ende genau das erleben, was ihnen unmöglich erschien: eine große Liebesgeschichte.
Informationen zum Autor
Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, forschte als
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