Was Liebe ist
»Entschuldigung.«
Die Frau, die vor ihm steht, trägt eine verwaschene schwarze Jeans mit ein paar Rissen und darüber ein ebenfalls schwarzes T-Shirt mit einer großen weißen Aufschrift, von der aber nur die Buchstaben IGH zu erkennen sind. Anfang und Ende des Schriftzugs werden von einer abgewetzten Lederjacke verdeckt. IGH – als Jurist assoziiert er RIGHT.
Die Frau ist Ende zwanzig und hat dunkle, kurz geschnittene Haare. Hier und da schießen ein paar eigenmächtige Strähnchen hervor. Ihr Gesicht ist schmal, hell. Sie betrachtet ihn irritiert, wie er da im Anzug und mit Aktentasche vor ihr sitzt. Vermutlich ist er nicht der Typ von Mann, mit dem sie üblicherweise zu tun hat. »Entschuldigen Sie«, sagt sie noch einmal, »aber Sie sitzen auf meinem Platz.«
Auf dem Tisch steht eine Schale mit einem zur Hälfte getrunkenen Milchkaffee. Das bemerkt er erst jetzt. Daneben liegt eine aufgeschlagene Ausgabe des Spiegel vor einem Aschenbecher mit zwei ausgedrückten Zigaretten.
Er murmelt: »Tut mir leid … es geht schon wieder.«
Sie sagt: »Stimmt etwas nicht?« Und als er nichts entgegnet und nur eine unklare, halb zustimmende, halb abwehrende Bewegung mit dem Kopf macht, fügt sie hinzu: »Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.«
Wie nahezu alle Epileptiker ist er darum bemüht, seine Krankheit gegenüber anderen zu verbergen. Es gibt zu viele Vorurteile über Epileptiker. Manchmal heißt es, epileptische Erkrankungen seien den Menschen anzusehen, was nichtstimmt. Oder die Epilepsie wird als eine Form von geistiger Behinderung betrachtet, die auch die Intelligenz begrenzt. Oder man hält Epileptiker für aggressiv und unterstellt ihnen, dass sie besonders häufig psychische Probleme haben bis hin zur Schizophrenie.
All das ist Unsinn. Es gibt keine Belege für irgendeine dieser Behauptungen. Manchmal gibt es Vorerkrankungen des Gehirns, zum Beispiel Tumore, die sowohl für die Epilepsie als auch für psychische oder geistige Probleme verantwortlich sind. Doch die meisten Epilepsien sind idiopathisch – das heißt, es lässt sich keine krankhafte Veränderung des Gehirns feststellen, die als Ursache für die Epilepsie in Frage kommt. In allen Tests erweisen sich die Gehirne idiopathischer Epileptiker als intakt und unauffällig. So ist es auch bei ihm.
Die Frau, auf deren Platz er sitzt, bringt ein Glas Wasser und stellt es vor ihn auf den Tisch. Er bedankt sich.
»Es geht schon wieder.«
»Vielleicht ist es das Wetter«, sagt sie und setzt sich. Als sie sich den Stuhl zurechtrückt, gibt ihre Lederjacke den Blick auf die T-Shirt-Parole frei. Quer über ihrer Brust steht nicht RIGHT, sondern FIGHT!
Allmählich geht es ihm wieder besser. Vielleicht war es wirklich nur das schwüle Wetter. Oder er hat etwas Verdorbenes gegessen, zum Beispiel das Rührei vom Frühstücksbuffet, bei dem er einen Moment gezögert hat. Er atmet durch.
»Ich muss sowieso weiter«, sagt er. »Sie sind mich gleich los.«
Jetzt lacht sie plötzlich, charmant und neugierig, offenbar ist ihr Unmut verflogen: »Wer sagt denn, dass ich Sie gleich wieder loswerden möchte? Wohin müssen Sie denn so dringend?«
Er sagt: »Zum Bundeskanzler.«
»Natürlich!«
Sie denkt, er scherzt mit ihr. Sie denkt, jetzt, da es ihm besser geht, ist es ein Spiel, vielleicht sogar ein Flirt. Sie klappt die Spiegel- Ausgabe zu, um zu unterstreichen, dass ihr die Lektüre nicht besonders wichtig gewesen ist – jedenfalls deutet er ihre Geste so. Nach dem Zuschlagen des Magazins sieht er nun dessen Cover, auf dem Adolf Hitler ganzseitig abgebildet ist, groß und frontal. Darunter heißt es: Die reale Macht des Bösen . Ist das so? Ist die Macht Hitlers noch real? Oder ist er nur noch eine Horrorfigur aus dem Gruselkabinett der Weltgeschichte?
Sie zündet sich eine Zigarette an und inhaliert tief. Aus der Art, wie sie raucht, schließt er, dass die Mischung aus Selbstliebe und Selbstzerstörung, die sich mit dem Rauchen verbindet, dem Bild entspricht, das sie von sich selbst hat.
»Und was machen Sie beim Bundeskanzler.«
»Ich vertrete ein Unternehmen.«
»Und was wollen Sie? Geld?«
»Ich nicht. Aber Schröder«, sagt er.
Er verträgt es nicht, dass sie raucht, will das aber nicht zugeben. Sie soll sich nicht die Schuld daran geben, dass die Übelkeit zurückkehrt. Um sich abzulenken, konzentriert er sich auf den Anblick unerheblicher Details: die Trinkschale mit den Resten des Kaffees, die weiße Milchglaskugel, dieals Deckenleuchte im
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