Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
als wäre er einer der Grenadiere gewesen, die seinen Onkel begleiteten, oder jenes flüchtige Gesicht, das verängstigt war, aber auch entschlossen, diese Angst nicht zu zeigen und die Schwester zu beschützen …
Doch was wusste er wirklich von jenem Abend in Böhmen? Alles. Er kannte den Geruch der Pferde, die Feigheit des Knechts, die blonden Locken und das aufgelöste Haar, den Duft und das Rascheln des Seidenrocks der Comtesse, die Scherze der Franzosen, die nicht so recht wussten, was sie tun sollten, ihre schlammbespritzten Uniformen, den stolzen Blick des Jungen, die Farbe des toten Laubs, das Läuten der Kirchenglocke in einem nahe gelegenen Dorf und jene angsterfüllte Stimme, die flehentlich darum bat, ihnen das Leben zu lassen …
Wer hätte ahnen können, dass ein böhmischer Hohlweg in die tiefste Wüste führen würde?
Er hatte sich seine Reisen ausgesucht. Das unendliche Australien erschreckte ihn ein wenig, na und? Er hatte ja nur ein Stück seinesOhrs eingebüßt, während sein Onkel auf seinen Feldzügen einen ganzen Arm verloren hatte. Er selbst hatte, wenn auch ohne Schuhe, nicht einmal die Entfernung zwischen Saint-Gilles und Nantes zurückgelegt. Grenadier Pelletier hingegen hatte in fünf Jahren ganz Europa durchquert, und es sollte bloß niemand annehmen, er hätte dabei jeden Tag ein Bett und drei gute Mahlzeiten gehabt.
Würde auch er eines Tages in Saint-Gilles als Greis leben und von seinen Abenteuern erzählen? Und was würde er über das Jetzt berichten? Würde er eingestehen, dass er ständig Angst gehabt hatte, und hoffen, dass die Kinder ihm nicht glaubten? Würde er seinen Erlebnissen – «Ganz nackt? Ja, die ganze Zeit über nackt!» – etwas Komisches abgewinnen können? Oder würde er alles in einem Abgrund aus Furcht und Terror verbergen und nie wieder hinabsteigen?
Als Junge war es ihm nie eingefallen, seinen Onkel danach zu fragen, was aus der Comtesse geworden sei – und woher hatte er überhaupt ihren Adelstitel gewusst? In seiner Erzählung verschwand sie in der Abenddämmerung am Arm des Oberst in dessen Zelt, der jüngere Bruder war als Hüter der Moral ebenfalls dabei. War Grenadier Pelletier am folgenden Tag aufgebrochen, um Elbe oder Donau zu überqueren? Hatte der Oberst die Unbekannte in seiner Kutsche auf unbekannte Mission geschickt oder sie in ein elendes Gefängnis werfen lassen? Je nach Laune stellte sich das Kind für die Geschichte des Onkels das eine oder andere Ende vor.
Die Comtesse erscheint am Kutschenfenster, sie trägt einen blauen Mantel und schaut den Grenadier an, der auf den Postilion gezielt und nicht geschossen hat, als der Feigling sich auf und davon machte. Sie wirft dem französischen Soldaten einen eindringlichen Blick zu, und obgleich sie ahnt, dass er sie nicht versteht, wendet sie sich an ihn und fleht um Mitleid.
Und dieser böhmische Hohlweg bleibt die schönste Erinnerung ihres Lebens.
Narcisse lauscht.
Waiakh unterbricht seinen Tagtraum und reicht ihm eine Armladung dünner Äste. Zusammen schälen sie die Rinde ab, dann spitzt Narcisse sie mit einer Muschelschale zu. Sie ruhen sich von der Eidechsenjagd aus, die sie den ganzen Morgen über beschäftigt hat, wenn auch mit magerer Ausbeute: zwei für Waiakh, einen für ihn.
Böhmen ist aus seinen Träumen verschwunden. Er versucht, eine andere angenehme Erinnerung wachzurufen, jene an die Hure von Kapstadt. Aber es gelingt ihm nicht. Ihr Gesicht, ihre Körperwärme, die Lust, die er verspürt hat, sind ihm entfallen.
Kann er alles vergessen haben? Er versucht, die Namen seiner Kameraden von der Saint-Paul wiederzufinden, aber sein Gedächtnis bleibt blockiert. Wenigstens von denen, die auf Backbordseite schliefen. Da gab es einen Pierre … einen Yvon … und der andere, der kleine Blonde, der so schön singen konnte? Er weiß es nicht mehr. Zu wie vielen waren sie gewesen?
Er kann sich weder an die Matrosen der Saint-Paul erinnern noch an die Hure von Kapstadt. Die böhmische Comtesse ist ihm noch ganz schwach in Erinnerung. Sind es Erinnerungen seines Onkels oder eigene? Sie sind von Nebeln umhüllt. Er gibt auf.
Sein Gedächtnis bringt seine Vergangenheit durcheinander, löscht sie aus, löst sie auf und stiftet Verwirrung. Es funktioniert nicht. Er hat weder Lust noch die Kraft zu kämpfen. Das Vergessen, das wie eine Flutwelle von unbekannten Ausmaßen am Ende einer von hoher Steilküste umgebenen Bucht ansteigt, erfüllt ihn nicht einmal mit Schrecken. Es
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