Was wir erben (German Edition)
nur Vorstellungen am Abend. Und jetzt wieder Probebühne. Jeden Tag. Morgens und Abends. Außer, es gibt eine Vorstellung zu spielen. Drei-, viermal die Woche. Am Nachmittag ein paar Stunden frei. Zwischen drei und sieben. Zwei Wochen noch und dann sind Theaterferien. Wir haben einmal im Jahr Urlaub. Sechs Wochen lang. Im Sommer.
Ich starre auf das Foto. Ich trage es durch die Wohnung wie eine Monstranz. Ich versuche, irgendetwas zu erkennen, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der mich weiterbringen könnte. Ein stinknormales Paar, denktman. Ich kenne das Schwimmbad. Ich kenne das Olympiagelände. Ich kenne München. Ich lebe hier, seit Jahren. Bisher hatte die Stadt nichts mit dem Vater zu tun. Die Stadt war vaterfrei.
Du hast erzählt, dass Deine Mutter eine fröhliche Frau gewesen sei. Dass sie einen Arzt geheiratet habe, als Du fünf warst. Dass sie noch zwei Kinder bekommen habe, Deine beiden Schwestern, und dann habe sie ihren Job als Krankenschwester an den Nagel gehängt. Sie sei jeden Tag schwimmen gegangen, ihr Leben lang, hast Du gesagt. Und dann diese Diagnose. Darmkrebs. Dein Ziehvater sei viel älter gewesen. Er sei schon vor zehn Jahren gestorben. Hat
er
von den beiden gewusst?
Du willst wissen, was für ein Mensch Dein Vater war. Wenn ich das wüsste. Ich kann keine Schublade öffnen, keine Festplatte aktivieren und das, was war, einfach herausziehen oder hochladen. Alles, was ich Dir bieten kann, sind meine durchlöcherten Erinnerungen.
Und dann ist da noch dieses Hörensagen, das die sechsunddreißig Jahre vor meiner Geburt betrifft.
Und die Jahre nach seinem Tod. Die gehören auch zum Vater.
Der Vater ist tot und die Vergangenheit ist ein Popanz.
Popanz ist ein altmodisches Wort, das ich schon lange nicht mehr benutzt habe. Popanz hat der Vater immer gesagt, wenn er sich von jemandem gekränkt fühlte, wenn ihm jemand zu nahe kam, wenn er sich vor jemandemschämte, dann hat er ihn als Popanz beschimpft. Menschen, die in seinen Augen von anderen Menschen abhängig und beeinflussbar waren, die aber dauernd versuchten, den Eindruck von Macht und Selbstbestimmtheit zu erwecken. Menschen, die ihm Angst machten. Einmal, ich war noch ganz klein, sechs oder sieben Jahre alt, da kam er nachts besoffen nach Hause und es dauerte nicht lange, bis sich ein Streit zwischen ihm und der Mutter entzündet hatte. Der Vater hat rumgeschrien. Das ist ein Popanz, hat er krakeelt. Was willst du von diesem Popanz! Zu diesem Popanz zu gehen. Das ist unwürdig. Ich lag im Bett. Den Kopf längst unter der Decke versteckt, ich schwitzte. Der Zorn glühte und schlug Funken. Ich hörte immer wieder dieses Wort. Popanz. Popanz. Immer wieder, immer lauter, bis die Türen knallten und die Mutter sich schluchzend im Badezimmer einschließen musste. Ruhe war erst, als der Vater im Wohnzimmer auf seinem Sessel eingeschlafen war. Morgens bin ich als Erste aufgestanden und da saß er noch in seinem Sessel, der Fernseher lief, sein Kopf zur Seite abgeknickt. Speichelfäden hingen aus dem Mund auf seine Schulter. Es roch nach verbranntem Holz. Und Schweiß. Und Alkohol. Ich legte mich vor ihn auf den Teppich. Wie ein Hund, der sein schlafendes Herrchen bewacht. Bis die Mutter kam, mich verscheuchte und den Vater aufweckte.
Erst viel später habe ich von der Mutter erfahren, dass er mit Popanz einen Therapeuten meinte, den sie eine Zeit lang wegen seiner Trinkerei konsultiert hatte. Weil sie ratloswar, sich nicht mehr zu helfen wusste. Als kleines Mädchen trug ich diesen Popanz immer bei mir. Popanz war mein Ungeheuer, mein Gespenst. Der Popanz machte mir alles streitig, was ich hatte. Wenn die Mutter wegging, ohne mich, eine Erledigung machen, einen raschen Einkauf, dann fürchtete ich, dass sie wieder diesen Popanz treffen würde. Das Gespenst namens Popanz saß in meinem Kopf. Es sitzt da immer noch.
Aber das Wort
Popanz
hatte ich längst aus meinem Wortschatz gekickt. Bis eben. Mit dem Wort steigt die Unruhe wieder auf. In mir brodelt es, mein Fleisch, meine Haut, die halten die Lava in Schach. Ein altmodisches Bild, das hinkt, so wie alle Vergleiche hinken. Ich weiß. Halber Bruder. Ich spreche das Wort aus, laut, immer wieder: Popanz. Die Vergangenheit hinterlässt dabei ihren rauchigen Geschmack auf meiner Zunge.
Ich weiß nicht, ob Du diesen Brief jemals lesen wirst.
Ich habe gestern die Abendprobe abgesagt, weil ich Holger von Dir erzählen wollte. Ich wusste, dass er nichts vorhatte. Meistens ist er verplant. Er
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