Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
zwangsläufig in Widerspruch zu den bis dahin erlebten eigenen Körper- und Sinneserfahrungen.
Deshalb ist das biblische Bild der Vertreibung aus dem Paradies eine recht passende Beschreibung dessen, was die meisten Menschen während ihrer Sozialisation erfahren haben: Aus der ursprünglichen Einheit mit sich selbst und ihren Gefühlen herausgefallen und von der Weisheit des Körpers abgeschnitten zu sein.
Kein Mensch kann sich die Bedingungen aussuchen, unter denen er aufwächst und die ersten wichtigen Erfahrungen macht, die darüber entscheiden, wie und wofür er sein Gehirn benutzt und welche Verschaltungsmuster dort ausgebildet und stabilisiert werden. Noch heute wachsen die meisten Menschen auf unserer Erde unter Bedingungen auf, die dazu führen, dass die prinzipiell vorhandenen Möglichkeiten zur Ausbildung eines hochkomplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns nicht ausgeschöpft werden. Und noch heute sind die meisten Menschen auf unserer Erde gezwungen, ihr Gehirn zeitlebens auf eine sehr einseitige Weise zu nutzen und für ganz bestimmte Zwecke einzusetzen. Das gilt auch für all jene, die irgendwann in ihrem Leben eine ganz bestimmte Strategie zur Bewältigung ihrer Ängste und zur Aufrechterhaltung ihrer inneren Ordnung gefunden haben und diese einmal gefundene Strategie anschließend immer wieder zwanghaft in der gleichen Weise einsetzen, weil sie glauben, dass sich damit alle anderen Probleme ebenfalls lösen lassen.
Die dabei in ihrem Hirn aktivierten Verschaltungen werden so immer effizienter verknüpft und gebahnt, bis aus den anfänglich kleinen »Nervenwegen« allmählich feste Straßen und schließlich sogar breite »Autobahnen« entstanden sind. Aus der primären Bewältigungsstrategie ist dann ein eingefahrenes Programm geworden, das das gesamte weitere Denken, Fühlen und Handeln der betreffenden Menschen bestimmt. Zwanghaft sind sie darum bemüht, immer wieder solche Bedingungen zu schaffen und aufrechtzuerhalten, unter denen sie die Zweckmäßigkeit ihrer einmal entwickelten Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Solange ihnen das gelingt, werden sie bei der Bewältigung bestimmter Aufgaben immer besser, immer effizienter und immer erfolgreicher. Sie scheitern aber meist kläglich, sobald sich die Verhältnisse ändern und neue Herausforderungen auf sie zukommen, die mit den alten eingefahrenen Verschaltungsmustern in ihrem Hirn nicht zu bewältigen sind. Auch ein solch einseitig programmiertes, immer wieder auf die gleiche Weise für dieselben Zwecke benutztes Hirn bleibt eine Kümmervision dessen, was daraus hätte werden können.
Die Mechanismen der Anpassung
Ein leider noch immer sehr entscheidender Auslöser für die fortwährende Anpassung der eigenen Vorstellungen und des eigenen Verhaltens an die in der jeweiligen Familie, der Sippe oder der jeweiligen Gemeinschaft herrschenden Strukturen ist die Angst – entweder die Angst vor einer angedrohten Strafe oder die Angst vor der Verweigerung einer Belohnung in Form von Zuwendung und Wertschätzung, die das betreffende Kind erfährt.
Immer dann, wenn es ihm gelingt, sich so zu verhalten, dass die Angst nachlässt, kommt es im Gehirn zur vermehrten Ausschüttung sogenannter neuroplastischer Botenstoffe. Sie bewirken eine nachhaltige und effektive Stabilisierung und Bahnung der zur Lösung eines bestimmten Problems (zur Vermeidung der angedrohten Bestrafung oder zur Erlangung der in Aussicht gestellten Belohnung) aktivierten neuronalen Verknüpfungen und synaptischen Verschaltungen. So lernt jedes Kind bereits sehr früh und auch entsprechend nachhaltig all das, worauf es für ein möglichst ungestörtes Zusammenleben in seiner jeweiligen Gemeinschaft ankommt.
Ebenso wirksam, aber wesentlich subtiler – und im Gegensatz zu diesem »Dressurlernen« von allen Beteiligten weitgehend unbemerkt – erfolgt das sogenannte Resonanz- oder Imitationslernen. Erst vor wenigen Jahren entdeckten die Hirnforscher sogenannte »Spiegelneurone« im prämotorischen Cortex von Affen, die immer dann miterregt werden, wenn ein Affe einen anderen Affen bei bestimmten Bewegungsabläufen beobachtet. Bei Kindern scheint die Fähigkeit bereits sehr früh ausgebildet zu sein, bei anderen beobachtete Verhaltensweisen im Inneren, durch den Aufbau eines eigenen, das beobachtete Verhalten abbildenden Erregungsmusters nachzuvollziehen. Kinder schließen auch in ähnlicher Weise durch Beobachtung aus dem Verhalten der Eltern, wie die
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