Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
Gegenstand gemeinsamen Interesses zu lenken. Der Einzelne bemerkt etwas und macht alle anderen darauf aufmerksam. Deshalb kommt es innerhalb einer Gemeinschaft auf jeden Einzelnen an. Deshalb sind nur Primaten in der Lage, individualisierte Gemeinschaften herauszubilden. Deshalb ist eine Affenhorde etwas völlig anderes als eine Büffelherde.
Und wir Menschen haben eben diese Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit gemeinsam auf etwas zu richten, besonders weit entwickelt. So können wir als Gemeinschaft etwas entdecken und aufklären, wenn einer von uns einen Anfang für eine solche Entdeckung gemacht hat. Ebenso gut können wir gemeinsam etwas gestalten, etwas bauen oder entwickeln, was sich einer von uns ausgedacht hat. Und wir können uns auch gemeinsam um etwas kümmern, wenn einer von uns bemerkt hat, dass etwas unsere Unterstützung braucht. Deshalb sind wir die einzigen Lebewesen, die in einer individualisierten Gemeinschaft verborgene Potentiale der einzelnen Mitglieder wie auch der gesamten Gemeinschaft zur Entfaltung bringen können. Wir sind wie keine andere Lebensform in der Lage, in einer Gemeinschaft über uns hinauszuwachsen. Und wir sind in der Lage, unsere gemeinsam gesammelten Erfahrungen, die von einzelnen Mitgliedern erworbenen Fähigkeiten und Erkenntnisse und die von einer Gemeinschaft entwickelten Vorstellungen und Ideen an nachfolgende Generationen weiterzugeben.
Aber diese einzigartige Fähigkeit zur transgenerationalen Weitergabe einmal entwickelter Vorstellungen birgt zwangsläufig die Gefahr, dass auch solche Vorstellungen an andere und insbesondere an folgende Generationen weitergegeben werden, die falsch sind oder die – weil sich die Welt inzwischen verändert hat – unbrauchbar geworden sind.
3.
Wie sind wir so geworden, wie wir sind?
Wenn es nicht ein großer Schöpfergeist war oder allmächtige genetische Programme, wer war es dann? Unsere Eltern? Unsere Lehrer und Erzieher? Oder irgendwelche anderen Vorbilder? Haben sie uns gezwungen, so zu werden wie sie? Oder waren wir es selbst? Haben wir uns freiwillig so verhalten, wie es andere von uns verlangt haben? Wem sind wir gefolgt und wem nicht? Und aus welchem Grund? Was passiert eigentlich mit uns und in unserem Gehirn, wenn wir anderen nacheifern, die in unseren Augen besonders erfolgreich und deshalb nachahmenswert sind?
Auf die Welt gekommen sind wir mit allem, was ein Neugeborenes für einen gelungenen Start in das Leben braucht: Mit einem funktionsfähigen Körper und einem Gehirn, das bereits vorgeburtlich gelernt hat, die in diesem Körper ablaufenden Prozesse zu steuern, die ersten Bewegungen von Rumpf, Kopf und Extremitäten einigermaßen koordiniert zu lenken und sogar die eigene Mutter an ihrer Stimmmelodie und an ihrem Duft zu erkennen. Wenn die Mutter bereits vorgeburtlich besonders gern bestimmte Musikstücke gehört, bestimmte Lieder gesungen hat, so haben wir auch diese bereits vorgeburtlich kennengelernt. Sogar ihre Lieblingsspeisen beziehungsweise deren besondere Aromen sind uns vertraut. Hat die Mutter während der Schwangerschaft gern Zimtgebäck oder Knoblauch gegessen, so mögen auch wir schon den Duft von Zimt oder eben von Knoblauch und erkennen ihn nun auch im Geschmack der Muttermilch wieder. Wir sehen süß aus und können die Mutter und andere Personen mit unseren ersten Bewegungen und Lautäußerungen verzaubern. Beim Stillen und beim Kuscheln mit nackter Haut wird in unserem Gehirn und in dem der Mutter vermehrt Prolaktin und Oxytocin ausgeschüttet, und das unterstützt die Fähigkeit, komplexe Wahrnehmungen im Gehirn zu verankern und abzuspeichern. Das hilft beim Einander-Wiedererkennen und beim Sich-miteinander-geborgen-Fühlen. Deshalb nennt man diese Peptide auch »Bindungshormone«. Und natürlich haben wir bereits vorgeburtlich die für unser gesamtes weiteres Leben so entscheidende Erfahrung gemacht, dass es möglich ist, gleichzeitig eng verbunden mit jemandem zu sein und über sich hinauswachsen zu können. Wir bringen deshalb die Erwartungshaltung mit auf die Welt, dass dort jemand zu finden sein wird, der uns annimmt, der uns wärmt und schützt und der uns aber auch hilft, unsere Potentiale zu entfalten, Neues zu lernen, uns weiterzuentwickeln. Deshalb suchen wir nach Neuem mit ebenso großer Begeisterung, wie wir auch nach Geborgenheit und Nähe suchen, die uns jemand schenkt. Wir haben also ein angeborenes Erkundungsbedürfnis und ein ebenso starkes Bindungsbedürfnis, und dazu gibt es
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