Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
Jugendlicher, orientiert er sich zunehmend an den Denk- und Verhaltensweisen seiner Altersgenossen, den Peer-Groups, zu denen er oder sie gehört oder gern dazugehören möchte. Ohne es selbst zu bemerken, entfernt sich der betreffende Mensch im Verlauf dieses Anpassungsprozesses immer weiter von dem, was sein Denken, Fühlen und Handeln ursprünglich, als er noch ein kleines Kind war, primär geprägt hatte: die eigene Körpererfahrung und die eigene Sinneserfahrung. Indem er all das zu unterdrücken beginnt, was bisher der selbstverständlichste und ureigenste Teil seines Selbst war, wird er sich selbst zunehmend fremd. Sein Körper und die aus seiner Körperlichkeit erwachsenden Bedürfnisse werden – weil sie dem starken Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung, nach Identitätsentwicklung und Selbstentfaltung im Wege stehen – als Hindernis betrachtet und deshalb unterdrückt und abgetrennt.
Zusätzlich gehen in die sich herausbildenden neuronalen Muster auch alle sogenannten Abwehrvorgänge ein, z.B. gegen schmerzvolle oder traurige oder wütende Gefühle, die in einer wenig Sicherheit bietenden Beziehung nicht gezeigt werden dürfen, unterdrückt werden müssen und schwer auszuhalten sind. Diese Abwehr von Gefühlen geht mit muskulären Anspannungen einher. Dadurch verändern sich Haltungsmuster und Atmung. Je häufiger und je früher das geschieht, desto stärker werden diese körperlichen Abwehrmuster verfestigt. Alle Sinneseindrücke, die mit den alten Erfahrungen assoziiert werden, rufen auch die alten Gefühle wieder wach. Darauf reagiert der Körper mit erneuten Anspannungen. Vor allem traumatische Verletzungen, die während der frühen Kindheit mit dem Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit, Ablehnung und Entwertung einhergehen, werden auf diese Weise sehr nachhaltig »verkörpert«. Auch wenn diese Gefühle im späteren Leben überwunden werden können oder die für das Zustandekommen dieser Gefühle verantwortlichen Personen längst gestorben sind, bleiben diese verkörperten Erfahrungen oft zeitlebens als gedrückte und verkrampfte Haltungen sichtbar.
Das haben wir alle als Kinder und Jugendliche so oder so ähnlich auf mehr oder weniger intensive Art am eigenen Leibe erfahren. In manchen Kulturen ist der Druck zu solcher Entfremdung und Instrumentalisierung des eigenen Körpers stärker, in anderen vielleicht auch geringer als bei uns. Aber gänzlich entgehen kann ihm kein Kind, das in einer Gemeinschaft von Menschen aufwächst, die bestimmte Vorstellungen davon haben, wie man als Mensch zu sein hat, um als Mitglied in dieser Gemeinschaft akzeptiert zu werden. Genau das, nämlich das Bedürfnis irgendwie dazuzugehören, ist der Schlüssel zum Verständnis dieses sonderbaren Anpassungsprozesses, der Menschen dazu bringt, ihr Gefühl von ihrem Verstand und ihren Körper von ihrem Gehirn abzutrennen. Ganz zu schweigen von den Verstümmelungen des eigenen Körpers, die Menschen bestimmter Kulturen vorzunehmen bereit sind, um irgendwie zu denen, die ihnen besonders wichtig erscheinen, »dazuzugehören«. Am verbreitetsten sind solche Phänomene in sozialen Gemeinschaften, deren Fortbestand und innere Stabilität in besonderer Weise auf solche identitätsstiftenden Rituale angewiesen sind oder in ihrer Geschichte darauf angewiesen waren. Das Spektrum solcher Körperverstümmelungen reicht von der bei Naturvölkern zu beobachtenden gezielten, oft schon während der Kindheit eingeleiteten Vergrößerung oder Verkleinerung einzelner körperlicher Merkmale bis hin zu Tätowierungen, Piercing und sogenannten Schönheitsoperationen in der westlichen Welt.
Bei Tieren sieht man solche Phänomene selten. Der Grund dafür ist einfach: Deren Verhalten ist bereits optimal an die Erfordernisse ihres jeweiligen Lebensraumes angepasst. Sie müssen nicht erst in einem schwierigen Prozess von Erziehung und Sozialisation lernen, was man tun und wie man denken und fühlen muss, um in einer Gemeinschaft überleben zu können. Weil wir Menschen, vor allem als Kinder, allein überhaupt nicht überlebensfähig sind, bleibt einem Kind gar keine andere Möglichkeit, als sich an die Denk- und Verhaltensmuster der Familie, der Sippe, der Gemeinschaft anzupassen, von der sein Überleben abhängt.
Wie auch immer diese Anpassungsprozesse im Einzelfall verlaufen, sie führen alle zum gleichen Ergebnis: Die nach der Geburt in der Beziehung zu anderen Menschen gemachten und im Gehirn verankerten Erfahrungen geraten
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