Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
versuchte er immer wieder, anderen Menschen nahe zu sein. und anerkannt zu werden. Das war nun die Frage: Wie kann er anderen Menschen nahe sein für den Rest seines Lebens? Wie kann er Anerkennung genießen und selber anerkennen? Aber auch das Thema der versäumten Nähe und Anerkennung war nun Gegenstand der Trauerarbeit.
Bei diesem Mann hat sich die Scham über das Bedürfnis nach Anerkennung in einer generalisierenden Weise über das ganze Leben gelegt und ihn daran gehindert, die zur Bewältigung der Trauer notwendige Erinnerungsarbeit zu leisten. Es war einfach alles nicht recht – auch in der Beziehung zu seiner Frau. Nachdem die Schamthematik verstanden war, erinnerte er sich plötzlich an gute Erfahrungen mit seiner Frau und seiner Familie, konnte auch zugeben, wie sehr ihm die Frau fehle und in seiner Weise trauern. Vor allem aber verstand er, dass es mit seiner Frau möglich war, selbstverständlich zu leben, mit den Unzulänglichkeiten, die immer da gewesen waren. Und diese Selbstverständlichkeit, die fehlte ihm jetzt, die wollte er, auch wenn er allein lebte, wieder entwickeln. Und vielleicht, so meinte er, könnte er auch noch etwas mehr seinen Interessen nachgehen.
Angesichts der Endlichkeit des Lebens
Bei einer Lebensrückblickstherapie bearbeitet man Knotenpunkte des Lebens oder entbindet dringend zu Realisierendes. Das genügt meistens, um das Leben wieder in Fluss zu bringen. In eine solche Therapie kommen Menschen, die ihr Leben gemeistert haben, und die auch überzeugt sind, das Leben weiter zu meistern, nur eben etwas stört und lässt das Leben nicht wirklich rund werden. Wir als Therapeutinnen und Therapeuten müssen Abstand nehmen von der Idee, dass alles bearbeitet werden muss. Manche kommen nach einer gewissen Zeit wieder und wollen ein neues Thema »anschauen«.
Vielleicht können Menschen nach einer solchen Therapie, die kaum länger als 20 Sitzungen dauert, ihr Leben besser erzählen, haben Lust, ihr Leben zu erzählen, auch anderen. Vor allem aber denken sie anders über sich und ihr Leben, vor allem auch über ihre Verfehlungen. Das wirkt sich auf die Beziehungen zu sich selbst aus, aber auch auf die Beziehungen zu den anderen Menschen und den Umgang mit den Problemen, denen sie sich natürlich stellen müssen. Ihr Leben hat sich nicht verändert, aber sie verstehen jetzt besser, was geschehen ist. Sie haben den freundlicheren Blick auf das Leben, sie können eine Geschichte erzählen, mit der sie besser leben können. Überhaupt: Einmal oder noch einmal die Lebensgeschichte erzählen, Aspekte der Lebensgeschichte, die schwierig sind, erzählen, neu erzählen mit einem freundlicheren, empathischeren Blick für sich selbst, kann helfen, sich mit dem Leben zu versöhnen. Sich ernsthaft mit sich selbst beschäftigen, nicht weil man sich narzisstisch aufblähen will, sondern weil das Leben vor der Vollendung steht – und man ja nur dieses eine Leben hat. Sich mit dem eigenen Leben noch eingehender auseinanderzusetzen ist motiviert von der Hoffnung, das Leben abrunden zu können, Erfahrungen, die nicht akzeptiert werden konnten, noch zu akzeptieren, die ausstehenden Geschäfte noch zu Ende bringen. Sich im Alter mit sich selber zu beschäftigen, bewirkt Freude und tiefes Einverständnis mit sich selbst, und ist meines Erachtens besser möglich als zu früheren Zeiten des Lebens: Denn das Gefühl für die Endlichkeit des Lebens macht wertschätzender für dieses eine Leben – und auch versöhnlicher. Nicht die Angst vor dem Tod ist das wichtigste Thema in diesen Lebensrückblickstherapien, sondern der Wunsch, das gelebte Leben würdigen zu können, durchaus verbunden mit der Frage, was es denn noch Neues zu leben und zu erleben gebe, was den Sinnhunger stillen könnte. Es werden Pläne für die Zukunft gemacht. Die Endlichkeit wird zwar schon bedacht – nüchtern, weil es einfach so ist. Aber gerade weil es so ist, wird das Leben noch so kostbar.
Dank
Ich bedanke mich bei all den vielen Menschen, die mir Anregungen zu diesem Buch gegeben haben, sich in Gesprächen über den Inhalt meines Buches selbst in einen Lebensrückblick verwickeln ließen und mir damit neue Anregungen gaben – es waren sehr viele.
Die Vignetten von Lebensrückblicken wurden aus unterschiedlichen Situationen der Rekonstruktion von Lebensrückblicken und von therapeutischen Situationen zusammengestellt, so dass Rückschlüsse auf einzelne Personen nicht möglich sind. Dennoch könnten sich die
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