Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
mehr so fixiert auf meinen Besitz. Ich halte mein Geld schon noch zusammen, und wenn ich nicht genug zum Leben hätte, wäre es wohl anders. Aber besitzen ist mir einfach nicht mehr so wichtig, vielleicht, weil mir schon aufgeht, dass das letzte Hemd keine Taschen mehr hat. Mir sind jetzt Erlebnisse wichtig: Ich bin ja auch langsam geworden, habe also mehr Zeit, bei den Dingen zu verweilen, einem Satz nachzuhängen, mich am Wachsen von Kindern zu freuen.«
Das Wissen um die begrenzte Zeit verändert den Bezug zum Leben: nicht mehr diese ständige Vorsorge für die Zukunft, nicht noch ein ehrgeiziger Plan, der verwirklicht werden soll. Es geht um das Leben in der Zeit, die einem gegeben ist: Berührende Erfahrungen zu machen, sich zu freuen an dem, was möglich ist, und was man auch liebt. Das höhere Alter ist nicht nur eine Zeit des Loslassens, sondern auch die Zeit des Übergangs vom Haben zum Sein, wie Erich Fromm dies ausdrückt. Bei dem »Sein« geht es um emotionale Erfahrungen, um Erlebnisse, um Austausch mit anderen Menschen … 74 Das gilt natürlich nicht nur für ältere und alte Menschen. In einer Studie wurde festgestellt, dass Menschen, die ihr Geld eher für Erlebnisse und Erfahrungen ausgeben, zufriedener, glücklicher sind, als die, die materielle Dinge kaufen. Emotionale Erfahrungen sind mit Freude verbunden. In der Erinnerung können sie positiv bewertet und positiv ausgestaltet werden. Materielles braucht sich im Gegensatz dazu eher ab. Emotionale Erfahrungen, Erlebnisse sind aber auch oft mit Menschen verbunden. Beziehungen machen glücklich – von anderen erfreulichen Menschen bekommen wir in der Regel nicht genug. Aus der Freude an sich selbst, der Ruhe und der Geborgenheit in sich, aus der Liebe zum Leben im Hier und Jetzt, kann der alte Mensch ganz anders auf andere Menschen zugehen – wenn er oder sie will. Gerade Begegnungen mit anderen Menschen, mit Fremden, werden als besonders eindrückliche, bereichernde Erlebnisse geschildert.
Emotionale Erfahrungen kann man in jedem Alter machen. Es scheint aber, dass die Erfahrungen der alten Menschen nachhaltiger sind. Warum das? Ist es, weil nicht mehr so viel Zeit bleibt? Weil es nicht mehr so viele Erfahrungen sind? Ist es Dankbarkeit für Bereicherndes? Zeigt sich ihnen die Fülle des Lebens?
Kernüberlegungen zur Lebensrückblickstherapie
Spezielle Aspekte meiner Methode haben sich aus typischen Erfahrungen und Beobachtungen ergeben, die ich in der Arbeit mit älteren Menschen gemacht habe, und beziehen sich auch auf die neueren Erkenntnisse der Theorien zur Erinnerung. Besonders wichtig sind mir dabei folgende Punkte:
Erinnern ist Vergegenwärtigen: Erzählungen sind dann lebendig, wenn sie auch Imaginationen sind. Man muss die Menschen zum vorstellungsbezogenen, sinnlichen Erzählen bringen, nicht bloß Informationen sammeln. Dann werden die Emotionen berührt, kann sich Veränderung auch ereignen.
Vergangenheit wird entsprechend der aktuellen emotionalen Situation erinnert. Diese kann man verbessern, zum Beispiel durch eine Freudenbiografie. Dadurch wird ein freundlicherer, liebevollerer Blick auf das eigene Leben möglich.
Themen, die als schuldhaft bewertet werden, werden vom Jetztpunkt aus bewertet, und nicht aus der Situation, in der man schuldhaft gehandelt hat. Es ist hilfreich, sich Geschichten von Erlebnissen und Erfahrungen zu vergegenwärtigen; möglichst auch Geschichten vom Gelingen, die in die Zeit der zu bearbeitenden Problematik fallen.
Einzelne Komplexepisoden 83 können bearbeitet werden. Darin gebundene Lebensthemen werden herausgearbeitet.
Persönliche Erfahrungen können in Resonanz zu kulturellen Gestaltungen neue Impulse geben.
Vergangenheit wird entsprechend der aktuellen emotionalen Situation erinnert.
Die aktuelle emotionale Situation kann verändert werden; dadurch wird im besten Fall ein liebevollerer Blick auf das eigene Leben möglich.
Über Verfehlungen schämen sich die meisten Menschen. Schon dass sie etwas für eine Verfehlung halten, zeigt, dass sie mit einem unbarmherzigen Blick ihr Leben ansehen, einen unbarmherzigen Blick verinnerlicht haben und annehmen, dass auch andere Menschen, etwa die Therapeutin, die ja jetzt mit hinsieht, den gleichen unbarmherzigen Blick auf das Leben werfen wird. Sie können zunächst nicht glauben, dass es auch einen barmherzigen, freundlichen Blick geben könnte. In Erwartung des unbarmherzigen Blickes aber schämen sie sich, finden noch viele Episoden, die
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