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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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I Heimat
    FISCHER    Interessante Türen hier.
    STERN    Gründerzeit.
    FISCHER    Ja, diese dunklen holzgetäfelten Räume entsprechen wohl dem Geschmack von damals. Das war die Zeit, wo Damen und Herren nach dem Essen noch getrennt saßen und die Herren bei schweren Burgundern und noch schwereren Zigarren ihre trüben Geschäfte regelten. So genannte Herrenzimmer, gibt es heute wohl kaum noch.
    STERN    Die trüben Geschäfte gibt’s noch.
    FISCHER    Die ja, aber die Herrenzimmer nicht mehr. Noch in meiner Kindheit erkannte man einen bürgerlichen Haushalt daran, dass es ein Herrenzimmer gab, in das zog sich Vater zum Rauchen zurück.
    STERN    Das gab es bei Ihnen zu Hause?
    FISCHER    Nein, wir waren arm, bei uns gab’s so was nicht. Ich bin auf der Bettcouch im Wohnzimmer aufgewachsen; meine zwei Schwestern teilten sich das dritte Zimmer in einer Dreizimmerwohnung ohne Bad.
    STERN    Aber Ihr Vater war doch Metzger, wenn ich das richtig weiß.
    FISCHER    Was heißt aber? Er hat Tiere getötet und auseinander genommen. Und sehr gute Wurst gemacht.
    STERN    Der Beruf des Metzgers spricht für einen gewissen bürgerlichen Wohlstand.
    FISCHER    Ging alles im Krieg dahin. Bei Kriegsende musste mein Vater für die russische Armee schlachten, die brauchten ja was zu essen. Also wurde erst mal das Vieh im Raum Budapest requiriert, und dann hieß es: «Wer kann schlachten?» Natürlich wurden die Schlachtungen überwacht, aber es fiel immer etwas ab, so die Erzählung. Metzger hungern nicht, so viel kann ich Ihnen zuverlässig mitteilen. Wir hatten auch später Fleisch satt, die ganze Woche über, während es bei anderen lediglich am Sonntag zwei Schnitzel gab.
    STERN    Eins für den Vater und das andere für die Familie.
    FISCHER    Richtig, das war die Regel, aber bei uns gab’s für jeden so viele Schnitzel, wie er wollte. Wir haben nie gehungert. Allerdings habe ich immer die Bäckerkinder beneidet, wegen der Süßigkeiten. Also: Essen gab’s immer, Geld nie.
    STERN    Wann ist Ihr Vater aus Ungarn weggegangen?
    FISCHER    Die Familie ist 1946, nach ca. zweihundert Jahren, ausgewiesen worden. Meine Mutter erzählte mir einmal, dass man die Mitläufer und Täter der Nazis von den Unbelasteten unter den Ungarndeutschen am Datum unterscheiden könne. Diejenigen, die sich schuldig gemacht hätten, wären mit der Wehrmacht Ende 1944 geflohen. Aber wie gesagt, alles Erzählung. Anläßlich des 50. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs hat «Die Zeit» damals eine längere Artikelserie über diese letzten Monate gebracht, unter anderem einen langen Artikel über die Schlacht um Budapest, da konnte ich die Erzählungen meiner Mutter mit der objektiven Geschichtsschreibung vergleichen, und ich muss sagen, die Oral History meiner Mutter war ziemlich präzise. Meine Mutter hat mir erzählt, dass einer der Todesmärsche Richtung Mauthausen im Winter 1944/45 durchs Dorf kam. Ganz furchtbare Dinge seien da geschehen, Frauen hätten versucht, den Häftlingen Essen zuzustecken, seien aber von der SS weggetrieben worden. Ich war acht oder neun Jahre alt, als meine Mutter mir das erzählte, und so was merkt sich ein Kinderkopf.
    STERN    Wann waren Sie das erste Mal da?
    FISCHER    1987. Und ich muss Ihnen sagen, man sollte das nicht machen. Wenn man als Kind in einem virtuellen Land «gelebt» hat, in einem Land der Träume, sollte man später nicht hin fahren, das ist immer ein Absturz. Ich fand den Friedhof, wo all die Namen standen, die ich in Baden-Württemberg …
    STERN    … vermisst habe.
    FISCHER    Nicht vermisst. Ich habe lediglich festgestellt, dass es diese Namen in Baden-Württemberg nicht gab. Und dann tauchten dort auch ca. 160 Lebende auf – das war allerdings bei meinem zweiten Besuch, als ich bereits Minister war –, die alle behaupteten, mit mir verwandt zu sein. Vermutlich waren sie das auch, es handelte sich ja um große Bauernfamilien, die untereinander heirateten und viele Kinder in die Welt setzten, als eine Art Sozialversicherung und gleichzeitig als Arbeitskräfte. Ich bin mit meiner Tante, der Frau des ältesten Bruders meines Vaters, die Hauptstraße runter gelaufen, da steht das Haus der Großeltern. Onkel und Tante hatten das Haus geerbt, sind aber enteignet worden, und zwar gleich doppelt, als Deutsche und als Kulaken, dabei waren sie nur Bauern und Metzger gewesen.
    STERN    Von den Ungarn?
    FISCHER    Von den

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