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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Kast
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Erinnerungen tauchen wir ein in ein Leben, das schon lange vergangen ist und vergegenwärtigen es uns. Betrachten wir Familienfotos mit verschiedenen Kleinkindern und entdecken uns selbst dann endlich, dann sagen wir: »Das bin ich!« Wir sagen nicht, »Das war ich!« – offenbar sind wir es immer noch. Es gibt eine Kontinuität in unserem Leben trotz aller Veränderungen, und diese Kontinuität wird im Lebensrückblick sichtbar.
    Die vielen Veränderungen in unserem Leben, die wir vor allem an markanten Punkten unseres Lebens wahrnehmen, werden durch das Erinnern verbunden. Verbinden wir aber verschiedene Erinnerungen, wird uns deutlich, dass im Netz der Erinnerungen die Essenz unseres Lebens erfahrbar ist, unsere Identität wird sichtbar. In unseren Erinnerungen begegnen wir auch den Sehnsüchten von damals, vielleicht sind es auch unabgegoltene Sehnsüchte. Und wir begegnen auch Erfahrungen, die wir lieber ungeschehen machen würden, derer wir uns schämen. Und dennoch: alle diese unsere Erfahrungen machen unser Leben aus – und nur wir können uns diesen Schatz vermiesen, indem wir unsere Erinnerungen nicht wertschätzen, sie als banal und belanglos einstufen. Doch damit tun wir aber auch unser Leben als banal und belanglos ab.
    Erinnerungen gruppieren sich um Schlüsselerfahrungen, oft um Erfahrungen, die wir das erste Mal gemacht haben: Der erste Schultag – den erinnern wir meistens recht genau. Den letzten meistens auch. Die vielen Schultage dazwischen erinnern wir nur, wenn etwas Besonderes geschah, etwas Wunderbares oder etwas Schreckliches. Der erste Kuss, die erste Liebe, der erste Liebeskummer – sie sind uns meistens präsent. Wir erinnern uns auch an vieles aus der Adoleszenz, vermutlich, weil da so vieles begann, aber auch, weil wir in diesem Alter uns schon Gedanken machen um unsere Biografie, vor allem auch darüber, was für ein Mensch wir werden wollen. Wir entwickeln einen Traum von unserem Leben: Da will einer ein wichtiger Forscher werden, eine andere eine berühmte Filmschauspielerin, ein berühmter Musiker, eine erfolgreiche Fußballerin … Es ist interessant, sich zurückzuerinnern: Was war denn mein Traum damals – und wie habe ich diesen Traum ausgefüllt – oder eben auch nicht. Natürlich waren das damals Größenideen, denn aus dem Leben soll ja etwas Großes werden. Natürlich hat man diese Träume nicht einfach umsetzen können – aber etwas davon ist doch in den meisten Leben realisiert worden. Gelingt es, sich nicht an der Größenidee zu messen, sondern an der Richtung, die darin sichtbar wurde, sehen wir eine Entwicklungslinie vom Traum zu unseren wichtigen Lebensthemen, zu den Themen, die zu verwirklichen uns immer wichtig waren, oder aber wir haben den Eindruck, etwas »falsch« gemacht zu haben. Nun mag es ja sein, dass der Traum zu weit von den Realisierungsmöglichkeiten entfernt war, vielleicht aus einer schwierigen Lebenssituation heraus, die es notwendig machte, einer Größenidee nachzuhängen, um das Leben überhaupt aushalten zu können. Aber sogar in diesen Situationen findet man oft noch ein Körnchen dessen, was zu verwirklichen uns später im Leben wichtig war.
    Aber nicht nur, was wir das erste Mal erlebt haben, was unsere Psyche noch unvorbereitet traf, bleibt in unseren Erinnerungen, sondern auch Erfahrungen, die das letzte Mal betreffen. Das letzte Mal mit einem Menschen gesprochen haben, den wir später nie mehr gesehen haben, der aus unserem Leben verschwand oder gar starb. Diese letzte Unterhaltung bekommt dadurch eine Bedeutung und wir holen sie in unsere Erinnerung zurück, versuchen das Gespräch und die Atmosphäre minutiös zurückzuholen in unsere Erinnerung, verknüpfen sie unbewusst mit Erfahrungen von Ende und Tod – und deshalb können wir uns auch später gut daran erinnern. Aber es muss nicht das letzte Mal im Zusammenhang mit einem realen Tod sein: Das letzte Mal in eine Firma gehen, das letzte Mal diesen bestimmten Schreibtisch aufräumen, das letzte Mal gemeinsam frühstücken … Was dazwischen ist, zwischen dem ersten und dem letzten Mal, rückt zusammen, verdichtet sich, ist schwer auf Einzelheiten zu durchdringen. Aber da, wo etwas Besonderes geschieht, etwas Herausragendes, da wird unsere Erinnerung wieder präziser: etwa bei Lebensübergängen oder bei Krisen, die mit diesen Lebensübergängen verbunden sein können. An runde Geburtstage erinnern wir uns meistens, vielleicht auch noch an die Zeit davor und an die Zeit danach.

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