Wasser
Der Kanal ist fünf Kilometer lang – drei davon unter der Erde –, bewässert 16 000 Palmen und versorgt an die 2000 Lizenznehmer.
Erst als ich in den unterirdischen Kanal hinabklettere, der an seiner tiefsten Stelle 34 Meter unter der Erde liegt, wird mir bewusst, dass er nahezu ohne Instandhaltung seit über zweitausend Jahren dem Zusammenhalt und Gedeih der Gesellschaft dient. Daher ist es nahezu unmöglich, von der persischen Ingenieurkunst und Organisationsfähigkeit nicht beeindruckt zu sein. Der Wasserstrom ist so stark, dass ich kaum aufrecht gehen kann. Hitze und Feuchtigkeit sind wohl noch genauso unangenehm wie zu der Zeit, als der Kanal erbaut wurde; die Qanate haben sich nicht verändert. Ich laufe also hier durch ein System, das seit 2500 Jahren gleich geblieben und heute nicht anders als damals von überragender lokaler Bedeutung ist: Vor über zweitausend Jahren trug es zur Gründung der Stadt Nizwa bei und ist heute die Lebensader der Region. So gesehen folge ich hier einer Linie, für die der Historiker Fernand Braudel im 20. Jahrhundert den Begriff »Longue durée« (lange Dauer) prägte. Denn meine Reise, die mit der Jagd auf die »verborgene« Rolle des Süßwassers verknüpft ist, bezieht sich auch auf das Verhältnis von Wasser und Gesellschaft, das sich nur ganz langsam, ja fast unmerklich ändert. Solch versteckte »ewige« Strukturen repräsentieren die Kanäle oder Qanate in Oman sehr gut.
Wieder zurück in Maskat, stehe ich auf dem leuchtend grünen Rasen vor dem Luxushotel, in dem mich das Informationsministerium untergebracht hat, und lasse den Blick von den rot und blau schimmernden Bergen über die kilometerlangen Sandstrände bis hin zum Indischen Ozean gleiten. Während die philippinischen Kellner mit diskreter Professionalität Obstschalen auf die Tischestellen, entdecke ich in einer omanischen Tageszeitung einen Artikel, der sich mit dem Wassermangel auseinandersetzt und mit einem Ausspruch des englischen Dichters Lord Byron beginnt. Darin heißt es, dass nur derjenige den Wert des Wassers kennt, der Durst erlitten hat. Ich bin mir nicht sicher, ob Byron tatsächlich recht hatte, denn auch derjenige, der viel hat und andere dürsten sieht, kennt den Wert des Wassers.
Vom Piazzale Michelangelo in Florenz hat man einen großartigen Ausblick auf einige der berühmtesten architektonischen und künstlerischen Besonderheiten dieser alten Stadt: Santa Maria del Fiore, auch als Il Duomo bekannt, die Basilika Santa Croce, in der unter anderem Galileo Galilei, Michelangelo und Niccolò Machiavelli begraben sind, sowie den Ponte Vecchio, Europas älteste Bogenbrücke, die sogar Adolf Hitler bei seinem Rückzug während des Zweiten Weltkriegs verschonte. Nicht zuletzt erschließt sich von diesem Aussichtspunkt die Baustruktur dieser Stadt am Arno, der, von den toskanischen Bergen kommend, Florenz durchquert und dann seinen Weg in Richtung Pisa und Mittelmeer fortsetzt.
Vor ungefähr fünfhundert Jahren, als die Renaissance in höchster Blüte stand und sich der moderne Humanismus entwickelte, schlossen sich zwei der wohl bedeutendsten Personen der europäischen Geistesgeschichte, Leonardo da Vinci und Niccolò Machiavelli, zusammen, um hier ihren einzigen gemeinsamen Plan auszuführen: ein Wasserprojekt, das im Vergleich zu allen anderen zeitgenössischen Standards wohl als gigantisch bezeichnet werden muss. Ihre Absicht war es, den Lauf des Arno zu verändern und dadurch Florenz in eine Hafenstadt zu verwandeln. Doch der Fluss sollte außerdem auch als militärische Waffe gegen die Nachbarstadt Pisa genutzt werden – man wollte den Feind in die Knie zwingen, indem man ihn austrocknete.
Leonardo und Machiavelli waren natürlich nicht die ersten, die sich große Pläne für die Nutzung des Wassers ausdachten. Schon seit langer Zeit waren die Flüsse in Italien mithilfe von Dämmenund Kanälen kontrolliert und gezähmt worden. 91 Und ebenso wenig war es eine neue Idee, künstlich kontrollierte Flüsse als Waffe im Kampf zwischen rivalisierenden Stadtstaaten einzusetzen. In der
Göttlichen Komödie
(um 1307–1321) schrieb Dante, der wichtigste Dichter der italienischen Renaissance, über die friedliche Nutzung der hydraulischen Ingenieurkunst. Er fantasierte zugleich über eine Bestrafung Pisas, indem der Arno aufgestaut und dann die Stadt überschwemmt werden würde. Und schon früh im 15. Jahrhundert überzeugte der Architekt Filippo Brunelleschi, der den Dom und dessen berühmte
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