Wege im Sand
ich schuld an ihrem Tod bin.«
»Das war mir selbst nicht klar«, gestand Jack. Der Weg den Hügel hinauf wurde steiler. Madeleine wirkte angespannt. Sie war immer mitfühlend und emotional gewesen; sie besaß ein großes Herz. Und sie hatte ihren großen Bruder immer bewundert. Das spürte er nun und verlangsamte seinen Schritt.
»Ich wollte nur helfen«, sagte Madeleine. »Und schau dir an, was dabei herausgekommen ist …«
»Du hast geholfen, Maddie. Du wusstest, dass Emma unglücklich war, und wolltest ihr die Gelegenheit geben, sich auszusprechen.«
»Ich bin mit ihr an den Strand gegangen. Weil sie dort immer am glücklichsten war. Ich dachte, wenn wir im Sand sitzen, schwimmen, am Strand spazieren gehen, mit den Füßen im Salzwasser … ich dachte, der Aufenthalt am Meer würde bewirken, dass sie wieder einen klaren Kopf bekommt und erkennt, dass sie nur dich liebt.«
»Das wäre meine Aufgabe gewesen.«
»Das ist keine Entschuldigung für ihr Verhalten«, sagte Madeleine.
»Ich weiß nicht. Vielleicht doch.«
»Es gibt keine Entschuldigung. Weil du etwas Wichtiges vergisst – Nell.«
Auf dem Gipfel des Hügels angekommen, herrschte starker Verkehr in beiden Richtungen. Eine kühle Brise wehte vom Hafen herauf. Der Gehsteig war gesprenkelt vom Schatten hoher Bäume. Jack warf Maddie einen verstohlenen Blick zu und sah, dass ihr Atem schneller ging. Er spürte ihre Liebe – zu ihm, zu Emma, aber vor allem zu Nell. Er hätte gerne alles ungeschehen gemacht, wenn es in seiner Macht gestanden wäre.
»Ich vergesse Nell nicht«, sagte er.
»Emma wollte euch verlassen …«
»Weißt du was? Das hätte sie nicht gemacht.«
Madeleines Augen weiteten sich.
»Das hat sie dir vielleicht erzählt. Hat sich von dem Gedanken mitreißen lassen. Aber Emma hätte Nell niemals im Stich lassen können – um keinen Preis der Welt. Das weiß ich, Maddie. Und du auch.«
»Ich dachte, du hättest mich ein für alle Mal abgeschrieben«, sagte Maddie. Eine steife Brise wehte, raschelte in den Blättern über ihren Köpfen. Dem Kalender nach war es noch Sommer, aber der Herbst stand bereits vor der Tür. Jack konnte ihre Stimme bei dem Wind und dem Verkehr kaum hören, deshalb trat er einen Schritt näher und ergriff ihre Hand.
»Das hätte ich nie getan. Du bist meine Schwester.«
Sie gingen schweigend weiter, über die Kuppe des Hügels hinweg. Jack dachte an all die Spaziergänge, die sie gemeinsam unternommen hatten. Als sie zum Beispiel ihre erste schlechte Note in einer Schulaufgabe bekommen hatte. Und als sie auf dem Pausenhof gestolpert und hingefallen war, vor den Augen der ganzen Klasse. Und an den Tag, an dem ihr Kätzchen gestorben war. Oder an den Morgen, als sie zur Kirche gegangen waren, zum Begräbnis ihrer Mutter.
»Ich bin jedenfalls froh, dass du wieder da bist. Wer oder was auch immer dich dazu bewogen haben mag. War es …«
Er wartete.
»War es Stevie?«
»Stevie hat die Entscheidung beschleunigt. Aber sie kam von alleine.«
»Stevie liebt Nell aufrichtig. Und ich glaube …«
Jacks Herz klopfte zum Zerspringen. »Was glaubst du?«
»Dich liebt sie auch.«
»Klingt einleuchtend. Wenn man bedenkt, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht.«
»Was machst du dann in Schottland?«
»Mir ausrechnen, wie schnell ich wieder hier sein kann.«
»Hier?«
Er nickte. »Ich habe bei IR gekündigt. Structural kann mich nicht wieder einstellen – in dem Vertrag, den ich unterschrieben habe, gibt es eine Klausel, die Abwerbung verbietet. Also habe ich erst mal Zeit und dachte, ich übernehme die Bauleitung bei Aidas Schlossprojekt.«
»Wunderbar, Jack. Stevie sagte, dass ihre Tante dir jetzt schon ewig dankbar ist.«
»Die Sache hat nur einen Haken. Bauen ist teuer. Auch wenn ich meine Dienste unentgeltlich zur Verfügung stelle, muss die Stiftung eine Möglichkeit finden, die ganze Sache zu finanzieren.«
Madeleine sah ihn mit blitzenden Augen an und grinste.
»Allerdings kenne ich da jemanden, der sich hervorragend aufs Spendensammeln versteht«, sagte Jack. »Sie arbeitet ständig an solchen Entwicklungsprojekten, sie ist ein richtiger Fuchs.«
»Das trifft sich gut, die Universität hat mir nämlich gerade unbezahlten Urlaub gegeben.«
»Du wärst also verfügbar?«
»Kommt darauf an, wer fragt. Für meinen Bruder allemal.«
»Dann frage ich dich.«
»Dann allemal!«
Der Kirchturm von St. Mary’s kam in Sicht. Er zeichnete sich dunkel und anmutig vor dem strahlend
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