Wege im Sand
mehr weiß, als ich denke.«
»Das ergibt Sinn. Bei mir scheint es ähnlich zu sein. Wenn man davon ausgeht, dass ich jetzt hier bin – statt dreitausend Meilen entfernt.«
»Wir schleppen eine Menge Louis Vuitton mit uns herum, wie Tante Aida sagen würde.«
Jack schüttelte den Kopf, wusste nicht, was sie damit meinte.
»Gepäck, Altlasten«, erklärte sie.
»Ja. Das kann man wohl sagen.«
»Doch wir haben auch noch etwas anderes, was meiner Meinung nach schwerer wiegt.«
»Und was ist das?«, fragte er, wollte, musste es wissen.
»Wir haben uns. Und Nell.«
Damit war alles gesagt, zumindest für den Augenblick. Und um sich zu lieben, bedurfte es keiner Worte.
29. Kapitel
D ie Hochzeit fand in St. Mary’s, in der Spring Street, statt. Der imposante Kirchturm aus der Epoche der Neogotik ragte über der kleinen Stadt am Meer auf. Rote Klettertrompeten strebten neben dem Eingangsportal empor, als wollten auch sie die Botschaft von Hoffnung und Freude verkünden.
John F. Kennedy und Jacqueline Bouvier hatten sich am 12. September 1953 in dieser Kirche das Jawort gegeben. Doreen Donnelly war hier getauft, zur Erstkommunion gegangen und gefirmt worden, und hier hatte sie ihren Eltern das letzte Geleit gegeben.
Henry war das reinste Nervenbündel.
»Ich werde die ganze Feier verpatzen, Lulu«, sagte er zu Stevie, als sie draußen auf der Treppe standen. Sie hatte das Gasthaus früher verlassen, gemeinsam mit Nell, um Henry seelischen Beistand zu leisten, während Aida Doreen beim Ankleiden half. »Du weißt, wie viel es ihr bedeutet, in dieser Kirche zu heiraten? Sie hat ihr ganzes Leben lang von diesem Augenblick geträumt. Doreen und Jackie Kennedy, in derselben Kirche getraut. Ich habe Angst, dass ich wie ein Idiot zu heulen beginne, wenn ich sie mit Schleier und Brautstrauß vor mir sehe.«
Nell kicherte.
»Was ist daran so komisch, junge Dame?«
»Nur dass man jemandem, der eine weiße Uniform trägt … nicht zutrauen würde, dass er heult.«
»Du bist ein Bräutigam, wie er im Buche steht, Commander«, ermutigte ihn Stevie. Sie fühlte sich unsäglich beschwingt und glücklich – zumal sie wusste, dass sich Jack im Gasthof mit Madeleine aussprach und sich gleich zu ihr gesellen würde. Sie hatten fast die ganze Nacht miteinander verbracht, bis kurz vor Morgengrauen. Sie hatten sich noch einmal geliebt, und dann war Stevie in ihr Zimmer geschlichen, um so zu tun, als sei sie auf dem Sofa eingeschlafen.
»Was sind das für Bänder an deiner Uniform?«, fragte Nell.
»Oh, nur ein paar Erinnerungen an das Leben in der Marine«, erwiderte er.
»Er ist ein hochdekorierter Marineoffizier«, erklärte Stevie und legte den Arm um Nell. »Er ist mit seinem Schlachtschiff kreuz und quer durch die Welt gefahren und hat gekämpft.«
»Deine Sichtweise entbehrt nicht einer gewissen Ironie«, brummte Henry mit hochgezogener Augenbraue. »Du solltest das näher erläutern.«
»Was ist das?« Nell stellte sich auf die Zehenspitzen und zeigte auf einen der Orden.
Stevie wusste es nicht und wartete, dass Henry Nell aufklärte. Er ließ sich Zeit und errötete – ein ungewohnter Anblick. Dann erwiderte er: »Das ist das Purple-Heart.«
»Wofür bekommt man das?«
»Das bekommt man, wenn man im Krieg verwundet wurde.«
Stevie sah ihn erschrocken an. »Verwundet?«, fragte sie, schlagartig ernüchtert.
»Es passierte vor Bahrain, im letzten Krieg. Ein Schrapnell hat mich erwischt.«
»Du bist in die Schusslinie geraten? Warum weiß ich nichts davon?«
»Ich habe Aida nichts gesagt, um sie nicht unnötig aufzuregen. Der Gedanke, dass ich dort im Einsatz war, war für sie schon schwer genug. Abgesehen davon war es nichts Ernstes.«
»Seit wann ist es nichts Ernstes, wenn man von einem Schrapnell getroffen wird?«
»Wenn zur gleichen Zeit Kameraden ihr Leben verlieren.«
Stevie verstummte, überlegte fieberhaft, wie sie verhindern konnte, dass die Unterhaltung eine unheilvolle Wende nahm. Sie sah Nell an, deren Blick Henry fixierte. Sie trat näher, dicht an ihn heran.
»Deine Freunde sind gestorben?«
»Ja.«
»Und du warst nur verletzt, so dass du meintest, das sei nicht weiter schlimm?«
Er nickte.
»Wie bei meiner Mutter und meiner Tante. Meine Tante wusste nicht, wie sie weiterleben sollte … nach dem Tod meiner Mutter. Und wir wussten es auch nicht – mein Vater und ich. Alle litten, aber wir hatten das Gefühl, dass es uns nicht zustand, uns zu beklagen … oder ein großes
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