Wege im Sand
hätte ihn am liebsten hinausgeworfen – einen Priester, mitten im Gotteshaus, in vollem Ornat.«
»Warum hast du es nicht getan?«
»Nell.«
»Natürlich, sie ging ja neben dir.« Stevie erinnerte sich noch genau daran, wie sie als Kind gemeinsam mit ihrem Vater die Kirche verlassen hatte, als die Trauerfeier für ihre Mutter zu Ende war.
»Ja. Das musste warten. Die nächsten Wochen waren angefüllt mit … mein Gott, du kannst es dir nicht vorstellen. Ich musste dafür sorgen, dass Nell die schlimme Zeit überstand. Sie überreden, wieder zur Schule zu gehen, sie abholen, für sie da sein, wenn sie weinte. All das.«
»Ich weiß …«, murmelte Stevie.
»Madeleine war im Krankenhaus, ihr Arm wurde mehrmals operiert. Chris wohnte in der Zeit bei uns, aber sobald sie transportfähig war, brachte er sie nach Hause. Es hieß, Kearsage habe die Gemeinde verlassen. Dann hörte ich, er habe sein Priesteramt niedergelegt. Ich war froh. Wenn er von der Bildfläche verschwand, konnte ich alles verdrängen, was mit Emma zu tun hatte.«
»So funktioniert das aber nicht.«
Jack schüttelte den Kopf. »Eines Tages kam ich von der Arbeit heim, und da saß er im Wagen vor meinem Haus, wartete auf mich.«
»Wieso das?«
»Er sagte, er müsse wegen Emma mit mir sprechen, er habe sie geliebt. Er litt unter Schuldgefühlen, weil er sie übers Wochenende mit Madeleine ›weggeschickt‹ hatte. Sie hätte eigentlich nicht mitfahren wollen. Sie wollte mir sagen, dass sie mich verlässt, und sich anschließend mit ihm treffen.«
»Wieso hat er dir das erzählt?«
»Er faselte etwas von ›Erleuchtung‹. Er wollte sein Gewissen erleichtern – und Nell kennen lernen, weil sie Emmas Ebenbild war.«
»Oh Gott.«
»Ich rastete aus. Ich sagte ihm, er sei ein pathetischer, selbstverliebter Narr. Es genüge ihm wohl nicht, meine Familie zu zerstören und meiner Tochter die Mutter zu nehmen – er besäße auch noch die Unverschämtheit, bei uns zu Hause aufzutauchen, um Nell kennen zu lernen. Ich … ich schlug ihn nieder. Ich war blind vor Wut. Ich weiß nur noch, dass ich ihm die Faust ins Gesicht knallte und ihn windelweich prügelte.«
»Er hat es herausgefordert.« Unter ihren Füßen knirschte der Kies, Wellen brachen sich an den Felsen.
»Ich war ziemlich erschrocken«, sagte Jack. »Nicht weil er Priester war, sondern weil ich nicht geahnt hatte, dass ich zu derart blinder Gewalt fähig war. Ich riet ihm, sich schleunigst zu verziehen und mir nie wieder unter die Augen zu kommen. Ich kann von Glück sagen, dass er nicht die Polizei eingeschaltet und Anzeige gegen mich erstattet hat. Am nächsten Tag fädelte ich meine Versetzung nach Boston ein. Das war kein Problem – Structural ist in dieser Hinsicht sehr flexibel. Und da die meisten Projekte meine Anwesenheit in Neuengland erforderten, machte der Umzug Sinn.«
»Und was war mit Maddie?«, fragte Stevie ruhig. »Warum musstet du den Kontakt zu ihr abbrechen, zumal Kearsage ihre Behauptungen bestätigt hatte?«
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Die Herrenhäuser zu ihrer Rechten wurden immer größer; Marmorpaläste im italienischen Stil, die Ziegeldächer im Mondschein blutrot leuchtend. Stevie spürte, dass Jack mit der Antwort rang. Sie ergriff seine Hand.
»Ich brach den Kontakt ab, weil sie mich zu sehr liebte«, sagte er, als er seiner Stimme wieder mächtig war. »Sie kannte die ganze Geschichte und hielt uneingeschränkt zu mir. Ich konnte es nicht ertragen, dass sie auf Emma wütend war, meinetwegen. Ich wollte nichts mehr von der ganzen Sache hören oder sehen. Die Folgen wären verheerend gewesen, wenn Nell die Wahrheit herausgefunden hätte, und das konnte ich nicht riskieren. Sie ist ein kluges Mädchen – hat eine rasche Auffassungsgabe, wie du weißt. Sie hätte binnen zwei Sekunden gespürt, dass Madeleine mit Emma fertig war. Ich wollte, dass sie ihre Mutter in guter Erinnerung behält.«
»Ich glaube, du hast beide unterschätzt.«
Jack schwieg, als sie sich Marble House näherten und den Tunnel unter dem Chinesischen Teehaus von Mrs. Vander Gilt betraten. Hier drinnen war es stockdunkel. Sie mussten vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzen, hielten sich dabei an der Hand.
»Madeleine hätte niemals etwas getan, was Nell verletzt hätte – sie akzeptiert ihre Liebe zu Emma ohne Wenn und Aber. Doch selbst wenn es anders wäre, hätte nichts, aber auch gar nichts, Nells Gefühle für ihre Mutter ändern
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