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Wehe wenn der Wind weht

Wehe wenn der Wind weht

Titel: Wehe wenn der Wind weht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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Kinderstube. In der ersten Etage wartete ihre Mutter auf sie. Als sie an der alten Frau vorbeigehen wollte, hob Edna plötzlich ihren Stock und schlug Diana den Karton aus den Händen. Der Deckel fiel herunter und das Küken rollte auf den Teppich. Edna starrte es an.
    »Ich kann's nicht glauben«, sagte sie. »Was, in Gottes Namen, hat das Kind getan?«
    »Es ist nur ein Küken«, erwiderte Diana, die sich bemühte, ruhig zu sprechen. »Gehst du schon hinunter, während ich es wegbringe? Christie ist in ihrem Zimmer und weint. Bitte, frag mich nicht, was passiert ist.«
    Edna schaute sie abschätzend an, und Diana spürte plötzliche Furcht. »Ich denke, wir sollten lieber miteinander reden, wenn du fertig bist«, sagte die alte Frau. Diana nickte wortlos.
    Sie wartete, bis ihre Mutter gegangen war, und brachte dann den Karton nach unten. Sie öffnete die Hintertür und warf ihn in die Mülltonne. Sie starrte einen Augenblick auf den Karton, schloß dann den Deckel der Tonne und kehrte in die Kinderstube zurück.
    Christie lag auf dem Bett. Sie hatte zu weinen aufgehört und starrte an die Decke. Als Diana in das Zimmer trat, schaute Christie sie nicht an.
    »Ich dachte, du seist ein gutes Mädchen«, sagte Diana mit kalter Stimme. »Vielleicht habe ich mich geirrt.«
    Christies Augen, so groß wie die eines Rehkalbes, begegneten plötzlich Dianas Blick.
    »Ich hab's nicht getan, Tante Diana«, flüsterte sie. »Ich hab's wirklich nicht getan.«
    »Ich rede nicht von dem Küken«, sagte Diana. »Ich rede über deinen Ungehorsam. Ich möchte nicht, daß du dieses Zimmer nachts verläßt. Hast du verstanden?«
    Christie nickte stumm.
    »Und was das Küken betrifft«, fuhr Diana fort, »so nehme ich an, daß es erstickt ist.« Tief innerlich spürte Diana etwas. Einen Stich, fast wie eine Erinnerung, und doch irgendwie anders. Sie versuchte es zu verstehen, doch es war schon vorbei. »Oder vielleicht ist es das auch nicht«, sagte sie plötzlich. »Vielleicht hast du es getötet. Du hast es geliebt, und Menschen verletzen immer die Dinge, die sie lieben.« Sie schaute Christie einen Augenblick lang unheilvoll an, drehte sich dann um und verließ die Kinderstube.
    Nachdem sie gegangen war, lag Christie reglos da. Die Welt schloß sich um sie, und plötzlich wünschte sie sich, noch ein Baby zu sein. Babies geschieht nie etwas Böses, dachte sie.
    Ihr Daumen verschwand in ihrem Mund. Bald sank sie in einen unruhigen Schlaf.
    Edna wartete in der Küche, sagte aber nichts, bis sich Diana eine Tasse Kaffee eingeschenkt und sich zu ihr an den Tisch gesetzt hatte. Als sie schließlich sprach, zitterte ihre Stimme vor Wut.
    »Und wie, bitte, erklärst du das?« fragte sie.
    »Um Himmels willen«, erwiderte Diana, in deren Stimme der Ärger schwang, den sie noch empfand, die aber plötzlich Christie vor der Wut ihrer Mutter beschützen wollte. »Es war nur ein Küken. Außerdem sagt sie, sie habe es nicht getan.«
    »Ach, wirklich«, entgegnete Edna sarkastisch. »Und wer, glaubt sie, hat es getan?«
    Diana seufzte tief. »Mama, ich hab' sie nicht einmal gefragt. Sie wußte nicht, daß sein Genick gebrochen war. Ich habe ihr gesagt, es müsse erstickt sein.«
    »So, das hast du?« bemerkte Edna. Ihre scharfen Augen bohrten sich in Diana. »Und wie kommst du dazu, so etwas zu sagen?«
    Wieder hatte Diana dieses seltsame Gefühl, sich halb an etwas zu erinnern, und sie starrte ihre Mutter an. »Wovon sprichst du?« fragte sie.
    »Ich spreche von dir, Diana«, sagte Edna ruhig. »Hast du vergessen, was geschehen ist, als du in Christies Alter warst?«
    »Mama ...«
    »Damals war es ein Kätzchen. Esperanzas Kätzchen. Erinnerst du dich nicht? Eines nachts kam es in die Kinderstube. Ich fand es am nächsten Morgen. Sein Genick war gebrochen, Diana.«
    Dianas Tasse schlug klirrend auf die Untertasse, als sie sie absetzte, und Kaffee schwappte dabei über den Rand.
    »Willst du sagen, daß ich das Küken getötet habe, Mutter?« fragte sie.
    »Hast du's?« entgegnete Edna.
    »Mama! Natürlich habe ich das nicht getan!«
    Edna saß ihr gegenüber. Als sie sprach, schwang Traurigkeit in ihrer Stimme mit.
    »Du warst immer ein böses kleines Mädchen, Diana. Ich hatte gehofft, das Alter würde dich ändern. Aber das hat es nicht, nicht wahr?«
    Der Raum schien sich zu drehen, und Diana spürte, daß Benommenheit sie übermannte. Was tat ihre Mutter? Sie hatte das Gefühl, auseinandergerissen zu werden, das Gefühl, daß ihr Inneres aus

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