Wehe wenn der Wind weht
gelesen hätte: »Wie lebt's sich denn da?«
Christie zuckte die Schultern. »Schon ganz gut, denke ich«, sagte sie, da sie weder zugeben wollte, daß sie fast die ganze Zeit Angst hatte, noch etwas Schlechtes über die Ambers sagen wollte. Und außerdem war sie sich nicht ganz sicher, was Susan nun eigentlich genau wissen wollte.
»Ich hörte, Miß Edna sei eine Hexe«, sagte Susan, wobei sie ihren Kopf auf ihre merkwürdige Art geneigt hielt. Die Leute fragten sich dabei immer, ob sie eine Frage stellte oder einfach eine Tatsache feststellte. Christie starrte sie an.
»Eine Hexe?«
Susan nickte. »Ich hab' sogar gehört, daß sie rohes Fleisch essen soll. Igitt!«
»Nun, das tut sie nicht«, sagte Christie. »Sie ißt das gleiche, was jeder andere auch ißt.«
»Meine Mutter sagt, sie sei verrückt«, warf Kim ein. »Nicht so verrückt, wie die Leute in der Irrenanstalt. Nur ... einfach seltsam.«
Christie schaute sie neugierig an. »Wie seltsam?«
»Nun ...«, begann Kim, zögerte aber dann.
»Nun was?« fragte Jay-Jay ungeduldig. »Wenn du's nicht erzählen willst, hättest du nicht damit anfangen sollen.«
Kim schaute unsicher von einem Gesicht zum anderen und wünschte sich, sie hätte dieses Thema nicht erwähnt. »Nun«, sagte sie wieder und wagte es. »Mami sagt, Miß Edna hätte Miß Diana eingeschlossen.«
Plötzlich war die Aufmerksamkeit der Gruppe ganz auf Kim gerichtet.
»Sie hat sie eingeschlossen?« keuchte Susan. »Wo?«
»Auf dem Dachboden«, sagte Kim.
Christie spürte plötzlich Furcht. Jede Nacht, wenn Diana sie nach oben brachte, hörte sie als letztes, wie der Schlüssel im Schloß gedreht wurde. Sperrte Diana sie deshalb ein? Weil sie auch eingeschlossen worden war? »Warum sollte sie das tun?« fragte Christie.
»Woher soll ich das wissen?« Kim zuckte die Schultern. »Aber Mami sagte, Miß Edna hat Miß Diana in ihrem Zimmer eingeschlossen, als sie noch ein kleines Mädchen war, und sie mußte sie sogar einmal ins Hospital schicken. Aber das war, als sie schon erwachsen war.«
»Du meinst in das von Dr. Henry?« fragte Jay-Jay zweifelnd. Sie war sicher, daß Kim die ganze Sache ziemlich aufblies, aber Kim schüttelte heftig ihren Kopf.
»Das ist kein Hospital. Das ist nur ein Büro. Miß Edna ließ Miß Diana in ein Irrenhaus bringen. Sie sagte, wenn Miß Diana verrückt wäre, dann sei das Miß Ednas Schuld.«
»Was war mit Miß Diana denn nicht in Ordnung?« fragte Susan. »Ich finde sie nett.«
Kim zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht hat Miß Edna sie geschlagen.«
Christie runzelte die Stirn und erinnerte sich an die Schläge, die sie von Diana bekommen hatte. »Warum sollte sie das tun?«
»Frag mich nicht«, sagte Kim. Sie blickte ihre Freundinnen an und verdrehte die Augen. »Mami sagte, ich sei zu jung, um das zu verstehen.«
Die anderen Kinder stöhnten mitfühlend. »Mein Papa sagt mir das auch immer«, sagte Jay-Jay. Dann kicherte sie. »Vor allem, wenn ich ihn nach Sex frage. Dann wird er rot und sagt das.«
Die Kinder waren sich darin einig, daß ihre Eltern komische Leute seien und machten sich wieder auf den Weg zum Steinbruch. Doch obwohl Christie mit den anderen ging, hörte sie bald nicht mehr dem Geplapper zu. Statt dessen ließ sie sich die Dinge durch den Kopf gehen, die sie vorher gesagt hatten.
»Hexe ... verrückt ... irre ... sie einschließen.« Was bedeutete das alles?
Sie erreichten schließlich den Steinbruch, und einen langen Augenblick konnte Christie sie nur anstarren.
Der See war fast rund, und auf der anderen Seite erhob sich der Hügelhang fast steil nach oben. In der Morgenruhe bildete das Wasser einen perfekten Spiegel, und die Bäume, die den Teich beinahe ganz umsäumten, wurden auf seiner ruhigen Oberfläche reflektiert. Hier und da ragte ein Felsen aus dem Wasser.
»Man kann von dem letzten runterspringen«, erzählte Kim ihr. »Die anderen sind nur gut zum Sonnenbaden. Komm.«
Kim führte sie auf eine Lichtung, wo die anderen beiden Mädchen bereits ihre Badeanzüge anlegten. »Wer als letzte im Wasser ist, ist verrückter als Miß Edna!« schrie Jay-Jay. Sie stürmte von der Lichtung und einen Augenblick später war zu hören, wie ihr dicker Körper ins Wasser platschte. Susan folgte ihr, und Christie und Kim blieben allein auf der Lichtung zurück. Christie schaute sich unbehaglich um.
»Woher wißt ihr, daß hier niemand ist?« fragte sie. Kim streifte ihre Kleidung ab.
»Hier ist nie jemand.
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