Weihnachtsengel gibt es doch
erforderte, sich vor einem Publikum verletzlich zu machen? Beim Schauspielern ging es nur darum, zu fühlen – Liebe, Wut, Euphorie, Schmerz und Leid. Diese Dinge musste sie jetzt wieder verlernen. Sie musste sich beibringen, nichts zu fühlen. Die Weigerung, etwas zu fühlen, bedeutete natürlich auch, keine wirkliche Freude mehr empfinden zu können, aber das Opfer war es ihr wert.
Träume konnten sich ändern, sagte sie sich. Im Angesicht von schmerzhaften Ereignissen mussten sie sich sogar ändern. Ihre Liebe zu Büchern und Geschichten stellte sich als perfekte Lösung für die neue Maureen heraus. Eine Geschichte, die sich nur im Geist abspielte, war emotional wesentlich ungefährlicher als eine, die auf einer Bühne aufgeführt wurde. Nachdem sie das erst einmal erkannt hatte, war ihr die Entscheidung leichtgefallen. Sie hatte nicht ein einziges Mal zurückgesehen.
In den dunkelsten Tiefen ihrer Verzweiflung hatte sie gedacht,nie wieder lächeln zu können. Sie hatte befürchtet, ihr Herz für immer verloren zu haben.
Und dann kam Weihnachten. In jenem Jahr hatte sie den Feiertagen mit Grauen entgegengesehen. Sie hatte sich gewappnet gegen die neugierigen Fragen von Verwandten, wie denn ihre Reise nach Paris gewesen sei – was sollte sie ihnen nur antworten?
Dann hatte Stella Romano, die Leiterin des Kirchenchors, sie gefragt, ob sie Weihnachten im Chor mitsingen wolle.
Nein, hatte Maureen sagen wollen. Nein, ich werde nie wieder singen. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sie dann doch zugestimmt.
„Klar“, hatte sie gesagt. „Ich fühle mich geschmeichelt, dass du fragst.“
Sie tat das, wozu ihr Vater sie erzogen hatte: Sie fand Trost darin, anderen Menschen zu helfen. Was zur Weihnachtszeit leicht war. Es kam ihr egoistisch vor, ihr gebrochenes Herz zu betrauern, während sie einer Familie half, deren Haus gepfändet worden war, oder sich mit einer Frau traf, die aus einer gewalttätigen Beziehung kam, oder mit einem Teenager sprach, der versuchte, seine Sucht zu bekämpfen. Anderen mit ihren Sorgen zu helfen rückte ihre eigenen Probleme in die richtige Perspektive.
Für sie war die Erlösung kein dramatischer, mit Musik unterlegter Augenblick. Sie wachte nicht eines Tages auf und entschied, dass sie über ihn hinweg war. Es war vielmehr der kumulative Effekt, aus sich und ihrem Schmerz herauszugehen und für andere da zu sein. So einfach war das. Auch wenn es für sie zu der Zeit als ein Ding der Unmöglichkeit erschienen war, verebbte der Schmerz nach und nach. Den größten Fortschritt machte sie an Weihnachten, als sie sich voller Elan darauf stürzte, sich auf andere zu konzentrieren.
Sie lernte, dankbar zu sein für die tiefgreifenden und doch einfachen Dinge in ihrem Leben. Ihre Familie, die sich umsie versammelte, die verstand, dass in Paris etwas vorgefallen war, sie aber nicht drängte, darüber zu sprechen.
Ihr Vater sagte immer: „Sei ein Teil von etwas Größerem, als du alleine es bist.“ Und endlich, in diesem Jahr, erkannte Maureen, wie recht er hatte. Es war einfach nicht möglich, in Selbstmitleid wegen einer zerbrochenen Liebe zu schwelgen, wenn man einer Frau Kaffee einschenkte, deren Kind sich einer Krebsbehandlung unterzog.
Und das war das wahre Geschenk der Weihnachtszeit. Deshalb liebte Maureen sie und glaubte so sehr an ihre Macht. Wenn das jährliche Krippenspiel ein wenig von dieser Kraft übermitteln könnte, wäre sie schon zufrieden.
Auf diese Art war das Wunder geschehen. Es war ein stummes, geheimes Wunder. Niemand konnte es sehen oder hören, aber Maureen spürte es in ihrem Herzen, in diesem tiefen Gefühl der Heilung und des Friedens.
Das Licht kehrte in ihr Leben zurück, flackerte auf wie ein glimmendes Scheit unter einem leichten Lufthauch.
Weihnachten war wirklich die Zeit der Wunder. Und jedes Jahr wuchs ihre Liebe zu diesem Feiertag nur noch mehr.
16. KAPITEL
H ey, Moe.“ Ed die schnipp te vor Mau reens Gesicht mit den Fingern. „Aufwachen und die heiße Schokolade genießen.“
Er reichte ihr einen Becher mit schaumigem Kakao. „Danke“, sagte sie und versuchte, die alten, schmerzhaften Erinnerungen abzuschüt teln.
Er sagte nichts, sondern wartete nur.
Sollte sie es ihm sagen? Er war mit allem so offen gewesen. Mit seiner eigenen Vergangenheit, dem Unfall, den Besuchen bei den Anonymen Alkoholikern. Und es hatte seinem Ansehen in ihren Augen nicht geschadet. Maureen verspürte den Drang, endlich jemandem ihr Herz
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