Weil du fehlst (German Edition)
zerknüllte Taschentuch, das sie gerade in den Küchenmüll warf, als wir zur Tür hereinkamen, bestätigte diese Vermutung.
»Was ist mit euch? Warum seid ihr schon da?«, fragte sie misstrauisch.
»Was ist mit dir? Warum hast du geweint?«, fragte Oya genauso misstrauisch.
Komisch, dass ich noch nie mit Rabea – oder Oya – über die Wolke gesprochen hatte. Auch nicht früher. Wenn ich nachts wach wurde, schon als ich noch klein war, erfand ich andere Albträume, die ich erzählte, wenn Rabea in mein Zimmer kam, wo ich weinend im Bett saß.
Und so war es auch heute. Ich berichtete lediglich von meinem vermeintlichen Kreislaufzusammenbruch und reichte ihr den Arztbericht und den Termin zur Untersuchung in der kommenden Woche im Andrew-Johnson-Memorial-Hospital. Das war es. Die Wolke war meine Sache.
»Und jetzt du«, hakte Oya anschließend mit fast drohender Stimme nach. »Warum hast du geweint? Was ist passiert? Willst du … etwa schon wieder umziehen? Ein neuer Lover? Wo? Japan? China? Polen?«
Rabea schüttelte den Kopf, aber sie sah weiter niedergeschlagen aus. Es war dieser Psychiatriejob. Sie würde ihn nicht machen.
Warum nicht, erklärte sie uns nicht. Sie brauchte jetzt dringend eine andere Geldquelle, wenn wir nicht in absehbarer Zeit auf der Straße sitzen wollten.
Bis zum Abend hatte ich Kopfschmerzen. Und bis zum Abend musste ich an diesen Darius aus meiner neuen Schule denken. An ihn und seine tiefliegenden, intensivblauen Augen. An seine warme Hand mit den Regentropfen darauf. Ich spürte eine eigentümliche Leere, die ich loswerden wollte und doch nicht loswerden wollte. Oder nicht loswerden konnte. Wie auch immer.
»Hexenaugen«, begrüßte er mich am nächsten Schultag am großen Schultor und stieß sich mit dem Fuß von dem Baum ab, an dem er gelehnt hatte.
»Wie bitte?«, fragte ich perplex.
»Du. Deine Augen. Hexenaugen«, erklärte Darius und lächelte kryptisch.
Ich gab ihm keine Antwort darauf und wich seinem Blick aus. Warum machte es mich bloß so nervös, ihn anzuschauen? Warum fühlte ich mich so eigenartig leer, wenn sich unsere Blicke kreuzten? Ich hatte das Gefühl, ihn zu mögen und doch nicht zu mögen.
»Geht es dir wieder gut?«
Darius ließ nicht wirklich locker. Wir gingen nebeneinander her in den Seniorspavillon.
»Ja. Alles in Ordnung«, antwortete ich knapp.
»He, ich habe mich nämlich fast zu Tode erschreckt, als du gestern so zusammengeklappt bist. Im ersten Moment dachte ich, du bist vielleicht tot, oder so was. Und das war echt ein ziemlich ekliger Gedanke: Ich gebe einem Mädchen die Hand, und zack, fällt sie um und ist dahingerafft, während ich noch ihre Hand in meiner habe …«
Ich machte eine abwehrende Geste.
»Sie sind übrigens rauchig, silbrig, grünlichgrau«, fuhr Darius fort. »Deine Augen, meine ich. Sehr sexy, wenn du mich fragst. Frag mich also ruhig.«
»Hör doch mal auf, sie anzumachen, Darius«, unterbrach ihn Selma ungeduldig. Ich war ihr dankbar dafür und ich war weiterhin davon überzeugt, dass meine Augen einfach nur grau waren. Wolkengrau. Steingrau. Urzeitgrau. Grau mit grauen Schlieren darin. Nichts Besonderes also.
Ein paar Worte zum Thema SEX :
Oya war vierzehn, als sie zum ersten Mal mit einem Jungen schlief. Es war in unserer Pariszeit, und der Junge hieß Clément und war siebzehn. Die Schwester meiner besten Freundin auf Stromboli hatte zum ersten Mal Sex in ihrem Leben, als sie gerade mal zwölf war. Dafür behauptet Achmed, seine Mutter habe seinen Vater mit fünfundzwanzig Jahren geheiratet und sei bis zu diesem Tag Jungfrau gewesen. Ich für meine Person habe ebenfalls noch nie mit jemandem geschlafen. Es hat sich noch nicht ergeben. Keine Ahnung, warum.
Hey, Weltenbummlerin, alles okay bei dir? , schrieb Achmed an diesem Abend. Du hast dich seit gestern nicht gemeldet!
Achmed nennt mich Weltenbummlerin von Anfang an und seitdem konsequent in allen seinen Briefen. Weltenbummlerin klingt positiv, viel positiver als die Wirklichkeit ist, aber ich mag es. Vielleicht gerade deshalb.
Weltenbummelt doch mal für ein, zwei Jahre in die Türkei , schrieb Achmed weiter. Was meinst du? In der Türkei fließen sozusagen Milch und Honig. Schönes Land! Viel Kultur! Das Meer! Und hey, Achmed ist dort! Er wäre außer sich vor Freude, euer Fremdenführer und Zeitvertreiber zu sein! Sag das R. mit einem Gruß von mir!
Ich lächelte meinem Laptop zu. Fast zur gleichen Zeit fand Oya Jonna Sjöborg wieder.
»Sie
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