Weiss wie der Tod
gemacht. Ihr Ziel war eine Freundin in Kiel gewesen, mit der sie studiert hatte. Sie wollten das Bewerbungsgespräch durchspielen, was die Freundin bestätigte. Am Tag des Termins in Sonderborg hatte sie sie zum Bahnhof gebracht und Jette im Zug davonfahren sehen. Danach verlor sich ihre Spur. Weder ein Schaffner noch ein Fahrgast wollten sich an Jette erinnern.
Das Handy, das sie mit auf die Reise genommen hatte, konnte bis heute nicht geortet werden. Laut Telefongesellschaft war die letzte Nachricht kurz vor der deutschen Grenze eingegangen. Sie stammte von einem Festnetzanschluss in Flensburg. Der Inhaber war der Wirt eines Cafés, der Apparat ein frei zugänglicher Münzfernsprecher im Gang zu den Toiletten. Das Gespräch hatte rund eine Minute gedauert. Wenig später verabschiedete sich das Handy aus dem deutschen Netz, ohne sich beim Grenzübertritt ins dänische einzuwählen. Entweder hatte sie es abgeschaltet, oder es war zu Bruch gegangen.
Dass die Suche dennoch jenseits der Grenze fortgeführt wurde, lag unter anderem daran, dass die Videokameras auf den Bahnhöfen entlang der Strecke Kiel – Flensburg keine Bilder von Jette eingefangen hatten. Sie hatte demnach den Zug nicht verlassen.
Falk blätterte weiter. Wie beschrieben die Eltern ihre Tochter? Er fand Worte wie strebsam, zuverlässig und aufgeschlossen. Von ihrem letzten Freund – einem Doktoranden an der Uni in Kiel – hatte sie sich zwei Jahre zuvor getrennt. Er war überprüft worden, sagte aus, dass er zu Jette seitdem keinen Kontakt mehr gehabt hatte.
Die befreundete Studienkollegin in Kiel charakterisierte sie als committed – Neudeutsch für karriereorientiert. Jette hatte neben ihrem guten Abschluss vor allem die Fähigkeit, sich auf die eine Sache – ihren beruflichen Werdegang – zu konzentrieren, während die anderen Kommilitonen auch mal eine Auszeit nahmen oder auf Partys gingen. Jette hingegen suchte Kontakt zu ihren Büchern oder, wie im Falle ihres Ex-Freundes, Menschen, die sie weiterbrachten. An etwas anderes war bei ihr nicht zu denken. Daher sei es für sie auch nicht nachvollziehbar, wieso Jette das Bewerbungsgespräch in Sonderborg habe platzen lassen. Es musste etwas passiert sein.
Falk Gudman wechselte zu den Aussagen der wenigen Bekannten, der Professoren und der Familienangehörigen. Sie wiederholten das bereits Bekannte. Er hatte es hier mit einer Streberin zu tun, die auf dem Sprung war, ihre Vorstellung von Karriere zu erfüllen – jung, dynamisch und bereit, dafür Opfer zu bringen.
Das machte sie sicherlich zum Ziel von Neid und Missgunst unter ihren Kommilitonen. Doch reichte das für einen Mord? Die dänischen Kollegen hatten keinen Verdächtigen dafür gefunden.
Und ihr Handy? Wieso war die Verbindung an der Grenze so plötzlich abgebrochen? Wollte sie sich auf das wichtige Vorstellungsgespräch vorbereiten, ohne gestört zu werden?
Der Anruf aus dem Flensburger Café. Die Kollegen konnten eine Vielzahl unterschiedlicher Fingerspuren feststellen. Doch was besagten sie? Nichts.
Der Inhalt des Telefonats. Hatte ihr Mörder sie dazu bewegt, das so wichtige Gespräch in Sonderborg abzusagen?
Kaum vorstellbar bei ihrem Charakterbild.
Gudman rieb sich die Stirn. Wie kam deine Leiche dann in den Hamburger Hafen?
Das war eine Entfernung von gut zweihundert Kilometern.
Was hat dich kurz vor deinem Ziel veranlasst, die Reise abzubrechen und nach Hamburg zurückzukehren? Oder bist du in Dänemark gestorben, und dein Mörder hat dich nach Hamburg gebracht? Wieso sollte er das tun?
Um deine Spuren zu verwischen, gab es eine Vielzahl anderer Möglichkeiten, die weit weniger aufwendig waren.
«Falk», hörte er seinen Namen. Er blickte auf. Ein Kollege wies ihn auf die neuen Vermisstenanzeigen hin, um die Luansi Benguela gebeten hatte.
Er nickte und rief die Dateien auf. Es waren insgesamt vier Personen, die in den letzten vierundzwanzig Stunden in und um Hamburg als vermisst gemeldet wurden.
Den Anfang machte ein Mann, Ende sechzig, geistig verwirrt. Es folgten eine Dreizehnjährige, die nicht von der Schule zurückgekehrt war, und ein weiterer Mann, dessen Ehefrau ihn das letzte Mal vor einer Woche gesehen hatte. Schließlich eine Frau, Anfang zwanzig, die nicht zur Arbeit erschienen war. Es war der dritte Tag. Die Familie wusste nicht, wo sich ihre Tochter aufhalten könnte.
Falk klickte die Datei an.
Das Bild zeigte das Bewerbungsfoto von Jennifer Warneke. Sie war neu in Hamburg und arbeitete als
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