Weißes Gift im Nachtexpreß
den Pelzkragen gerückt.
„Jaaah!“ erwiderte bellig-heiser der
andere.
„Hol raus, was drin ist, Otto!“
„Jaaah!“
Otto schien Schmerzen zu haben. Und
sein Bein hing schief.
Jetzt lud Herbert ihn ab, kippte ihn
sozusagen vom Rad — plumps saß Otto auf dem spiegelnden Eis, jaulte kurz auf
und nahm dann eine bequeme Haltung ein, halb in Rückenlage.
Ich ahne, ich ahne..., dachte Tim. Na,
mal sehen.
Herbert wendete sein Rad und rannte
zurück, soweit die Glätte das zuließ, wobei er die Tretmühle schob.
Tim wartete. Otto wartete. Offenbar
zählte der bis hundert — vorausgesetzt, daß es ihn geistig nicht überforderte.
Denn als Penner war er mindestens so verkommen wie Herbert — und in diesem
Milieu ist ja nicht nur Körperpflege verpönt, sondern ebenso geistige
Betätigung.
Jetzt robbte Otto bis zum Pfeiler der
Pforte, wo über der Briefkastenklappe die Klingel war.
Offenbar klingelte er anhaltend, denn
er ließ den Daumen dort.
Ein knackendes Geräusch. Die
Gegensprechanlage.
„Ja, bitte?“ Eine strenge Stimme
donnerte aus den Metallrippen.
„Hilfe!“ Otto kreischte. „Hilfe!“ Er
holte Luft. „Ich bin gestürzt. Vor Ihrer Tür.“
„Gestürzt? Was heißt das?“
„Ausgerutscht. Es ist so glatt.“
„Name!“
„Otto Pawelke.“
„Augenblick! Ich komme!“
Alle Achtung! dachte Tim. Hat nur nach
dem Namen gefragt. Nicht nach weiteren Angaben zur Person, wie Geburtsdatum und
— ort. Offenbar ein reinster Engel der Hilfsbereitschaft. Sozusagen ein mieser
Unmensch. Denn daß er verladen werden soll, kann er nicht wissen.
Tim beobachtete aus seinem sicheren
Versteck heraus, amüsiert und verblüfft. Eingreifen — das hatte noch Zeit.
Beim Haus, einer Villa, flammte Licht
auf. Es gleißte bis zur Pforte.
Der Hausherr war ein Schwergewicht,
feist und groß, trug eine Strickjacke zur Krawatte und bewegte sich schnaufend.
Vor dem Speckschädel ein eher grobes Gesicht mit Doppelkinn und Fettfalten.
Dünnes Haar.
Während er zur Pforte watschelte,
tauchte seine rechte Hand auf aus der Hosentasche. Lampenlicht blitzte zurück
von brüniertem Metall. Eine Pistole! Aber dann sah der Typ, daß hier
offensichtlich kein Überfall geplant war, und verstaute das Schießeisen.
Tim staunte. Soviel Mißtrauen war
auffällig.
Währenddessen stöhnte Otto vor sich
hin.
Der Hausherr trat auf die Straße.
„Unerhört!“ belferte Otto los. „Das
kommt Sie teuer zu stehen, Herr. Glatteis. Nicht gestreut. Den Hals hätte ich mir
brechen können. Und jetzt ist es das Bein. Denken Sie denn, unsereins hat seine
Zeit gestohlen?“
„Mal langsam, Freundchen!“
Der Mann blickte die Straße entlang in
beide Richtungen, schien sich zu vergewissern, daß kein Zeuge da war.
„Nicht gestreut, sage ich! Nicht
gestreut! Wer sind Sie überhaupt?“
„Ich bin Dr. Landers.“
„Arzt?“
„Nein.“
„Wäre aber gut. Mein Bein ist gebrochen.“
Landers beugte sich über ihn. „Mal
nicht so laut. Können Sie aufstehen?“
„Mit einem Bein? Ich bin
schwerverletzt.“
„Mein Gärtner — der auch den Winterdienst
macht — sollte streuen. Aber er liegt mit Gelbsucht im Krankenhaus.“
„Und deshalb lassen Sie die Straße
verkommen? Ich verlange Entschädigung, Schmerzensgeld, Behandlungskosten,
Kosten für... für... Mir wird noch was einfallen. Auch wenn ich ein armer Hund
bin — meine Knochen sind mir heilig.“
„Verstehe ich. Tut mir leid. Aber nun
mal leise. Hier sind erstmal...“ Er zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche.
Tim sah, wie er Scheine abzählte. Etliche.
Otto zählte sicherlich mit. Dann
grapschte er sich die Banknoten — und weg damit unter seine Kluft, die aus
einem reichlich großen Wintermantel bestand und aus einem Jogging-Anzug. Alles Prachtstücke aus der Altkleider-Sammlung.
Sie tuschelten. So leise, daß Tim
nichts verstand. Otto nickte. Abermals hielt er die Hand auf. Landers zückte
die Geldbörse. Weiteres Geld wechselte den Besitzer. Otto schien zufrieden.
Landers grinste. Dann wandte er sich zur Gartenpforte und löschte das Licht.
Tim starrte hinüber und traute seinen
Augen kaum.
Landers trat hinter Otto, faßte ihn
unter den Achseln, zog ihn hoch. Der Fettmensch hatte Kraft. Mühelos hievte er
sich den Penner auf die Schulter.
Keuchend watschelte Landers dann die
Straße entlang, vorbei am dunklen Nachbargrundstück, bis zur Einfahrt der
Sauerlichs, wo er — außerhalb des Lichtfeldes — den Beinbrüchigen absetzte. Auf
den eisglatten
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