Weit wie das Meer
Sonne Neuenglands brieten. Cape Cod war zu dieser Jahreszeit stets überfüllt, doch die meisten Urlauber schliefen länger als gewöhnlich, und Theresa liebte es, auf dem festen Sand zu joggen, der von der zurückweichenden Flut noch ein wenig feucht war. Im Gegensatz zu den Bürgersteigen zu Hause gab der Sand gerade so viel nach, daß ihre Knie nicht schmerzten wie manchmal nach einem Lauf auf dem asphaltierten Untergrund.
Sie hatte schon immer gern gejoggt, eine Gewohnheit, die sie seit dem Geländelauf an der High-School beibehalten hatte. Auch wenn sie nicht mehr an Wettkämpfen teilnahm und nur selten auf Zeit lief, gehörte das Joggen jetzt zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie mit ihren Gedanken allein sein konnte. Sie betrachtete es als eine Art Meditation und hatte nie verstehen können, warum so viele Leute gern in Gruppen joggten.
Bei aller Liebe zu ihrem Sohn war sie doch froh, Kevin nicht bei sich zu haben. Jede Mutter braucht manchmal eine Verschnaufpause, und sie freute sich auf die unbeschwerten Tage hier. Kein abendliches Fußballspiel oder Schwimmen, kein MTV-Geplärre im Hintergrund, kein Abhören von Hausaufgaben, kein Aufstehen mitten in der Nacht, um ihn zu trösten, wenn er schlecht geträumt hatte. Sie hatte ihn vor drei Tagen zum Flughafen gebracht, damit er seinen Vater - ihren Exmann - in Kalifornien besuchen konnte, und erst nachdem sie ihn darauf hingewiesen hatte, war es Kevin bewußt geworden, daß er sie zum Abschied weder umarmt noch geküßt hatte, »’tschuldigung, Mom«, hatte er gesagt, als er die Arme um sie schlang und ihr einen Kuß gab. »Ich hab dich lieb. Und vermiß mich nicht zu sehr, okay?« Damit hatte er sich abgewandt, dem Flugbegleiter sein Ticket ausgehändigt und war, ohne sich noch einmal umzudrehen, im Flugzeug verschwunden.
Theresa hatte es ihm nicht übelgenommen. Mit zwölf befand er sich in jener schwierigen Phase, in der es nicht cool ist, seine Mutter in der Öffentlichkeit zu umarmen und zu küssen. Außerdem kreisten seine Gedanken um andere Dinge. Seit Weihnachten fieberte er dieser Reise entgegen. Sein Vater und er würden den Grand Canyon besuchen, dann eine Woche auf einem Floß den Colorado River hinunterfahren und sich schließlich Disneyland ansehen. Es war die Traumreise für einen Jungen, und Theresa freute sich mit ihm. Es war gut für Kevin, längere Zeit mit seinem Vater zu verbringen, auch wenn er ihr in den sechs Wochen sehr fehlen würde.
David und sie hatten seit ihrer Scheidung vor etwa drei Jahren ein relativ gutes Verhältnis. Obwohl er nicht gerade der beste aller Ehemänner gewesen war, war er ein guter Vater. Er vergaß nie, ein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk zu schicken, rief wöchentlich an und reiste mehrmals im Jahr quer durchs Land, um ein Wochenende mit seinem Sohn zu verbringen. Dann gab es natürlich noch die gesetzlich vorgeschriebenen Besuche - sechs Wochen im Sommer, jedes zweite Weihnachten und ein paar Tage in der Ferienwoche um Ostern. Annette, Davids neue Frau, hatte mit dem neuen Baby alle Hände voll zu tun, aber Kevin mochte sie sehr und hatte sich nie vernachlässigt oder fehl am Platz gefühlt. Im Gegenteil, er schwärmte immer von seinen Besuchen und erzählte, wieviel Spaß er gehabt habe. Manchmal war sie fast ein bißchen eifersüchtig, aber sie tat ihr Bestes, um es vor Kevin zu verbergen.
Jetzt, am Strand, lief sie in mäßigem Tempo. Deanna würde mit dem Frühstück auf sie warten - Brian war dann schon fort -, und Theresa freute sich darauf, mit ihr zu plaudern. Deanna und Brian waren ein älteres Paar (beide gingen auf die Sechzig zu), doch Deanna war ihre beste Freundin.
Deanna und ihr Mann Brian, Chef vom Dienst bei der Zeitung, für die Theresa arbeitete, kamen schon seit Jahren nach Cape Cod. Sie wohnten immer im selben Haus, dem Fisher House, und als Deanna erfuhr, daß Kevin einen Großteil des Sommers bei seinem Vater in Kalifornien verbringen würde, hatte sie auf einem Besuch Theresas bestanden. »Brian spielt jeden Tag Golf«, hatte sie gesagt, »und überhaupt, was willst du sonst tun? Du brauchst einfach mal einen Tapetenwechsel.« Theresa wußte, daß sie recht hatte, und nach einigen Tagen Bedenkzeit hatte sie die Einladung schließlich angenommen. »Ich bin so froh«, hatte Deanna mit einem triumphierenden Leuchten in den Augen gesagt. »Es wird dir dort gefallen.«
Theresa mußte zugeben, daß es ein wunderschöner Ort war. Das Fisher House war ein hübsch
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