Weit wie das Meer
laufen und sich um nichts in der Welt kümmern zu müssen? Wie mochte es sein, fern von der Hektik Bostons jeden Tag an einen ruhigen Ort wie diesen zu kommen, nur um zu genießen, was das Leben zu bieten hatte?
Sie watete etwas weiter ins Wasser und folgte dem Beispiel des Mannes, in der Hoffnung, das zu empfinden, was er empfand. Aber als sie die Augen schloß, konnte sie nur an Kevin denken. Wie sehr sie sich wünschte, mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen und dabei mehr Muße zu haben! Sie wollte mit ihm zusammensitzen und mit ihm plaudern, Monopoly spielen oder einfach nur fernsehen, ohne ständig das Gefühl zu haben, aufstehen und etwas Wichtigeres tun zu müssen. Sie kam sich manchmal unehrlich vor, wenn sie Kevin versicherte, daß er an erster Stelle stand und daß die Familie das Wichtigste war.
Das Problem war nur, daß es immer etwas zu tun gab. Geschirr mußte gespült, Wäsche gewaschen, das Badezimmer geputzt, die Katzenstreu erneuert werden; das Auto mußte zur Inspektion gebracht, Rechnungen mußten bezahlt werden. Kevin, ihre größte Stütze im Haushalt, war fast so beschäftigt wie sie, mit Schule und Freunden und all seiner anderen Aktivität. Und so kam es, daß Zeitungen ungelesen im Papierkorb landeten, Briefe ungeschrieben blieben, daß sie manchmal, wie etwa jetzt, fürchtete, ihr Leben könne ihr entgleiten.
Aber wie ließ sich das alles ändern? »Mach im Leben immer eins nach dem anderen«, hatte ihre Mutter immer gesagt, aber ihre Mutter hatte nicht außer Haus arbeiten und einen lebhaften und selbstbewußten, aber liebebedürftigen Sohn ohne Vater aufziehen müssen. Sie konnte nicht begreifen, welchem Druck Theresa täglich ausgesetzt war. Auch ihre jüngere Schwester Janet, die in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten war, verstand sie nicht. Sie war seit knapp elf Jahren glücklich verheiratet und hatte drei reizende Töchter als Beweis ihres Glücks. Ihr Mann Edward war keine Leuchte, dafür aber zuverlässig und fleißig, und er verdiente genügend Geld, so daß Janet nicht arbeiten mußte. Manchmal dachte Theresa, ein solches Leben würde ihr behagen, auch wenn sie dann ihren Beruf würde aufgeben müssen.
Doch das war nicht möglich. Nicht, seitdem sie von David geschieden war. Und das waren jetzt schon drei Jahre, vier sogar, wenn man das erste Jahr der Trennung hinzuzählte. Sie haßte David nicht für das, was er getan hatte, aber ihre Achtung vor ihm war erschüttert. Ehebruch, egal ob nur ein kurzer Seitensprung oder eine dauerhafte Affäre, war etwas, womit sie nicht leben konnte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß er die Frau, mit der er seit zwei Jahren zusammenlebte, nicht geheiratet hatte. Der Vertrauensbruch war irreparabel.
David war nach ihrer Trennung in seinen Heimatstaat Kalifornien zurückgekehrt und hatte wenige Monate später Annette kennengelernt. Seine neue Lebensgefährtin war sehr fromm und weckte nach und nach Davids Interesse für die Kirche. Der Agnostiker David schien immer schon auf der Suche nach einem höheren Sinn in seinem Leben gewesen zu sein. Jetzt ging er regelmäßig in die Kirche und engagierte sich sogar neben dem Pastor als Eheberater. Was mochte er wohl jemandem raten, der das gleiche getan hatte wie er, fragte sie sich oft, und wie konnte er anderen helfen, wenn er sich selbst nicht hatte beherrschen können? Sie wußte es nicht, und genaugenommen war es ihr auch gleichgültig. Sie war einfach nur froh, daß er sich immer noch um seinen Sohn kümmerte.
Natürlich waren nach der Trennung auch viele Freundschaften zerbrochen. Jetzt, da sie solo war, schien sie bei Weihnachtsfeiern oder Grillfesten fehl am Platze. Einige Freunde aber waren ihr geblieben, sie sprachen auf ihren Anrufbeantworter, luden sie zu einer Party oder zu einem Abendessen ein. Gelegentlich nahm sie die Einladung an, meist aber erfand sie eine Ausrede. Keine der Freundschaften erschien ihr so wie früher zu sein. Die Umstände veränderten sich, die Menschen veränderten sich, und das Leben draußen vor dem Fenster ging weiter.
Seit ihrer Scheidung war sie nur selten mit Männern ausgegangen. Nicht, daß sie eine unattraktive Frau gewesen wäre. Ganz im Gegenteil, das jedenfalls wurde ihr oft bestätigt. Sie hatte dunkelbraunes glattes und seidiges Haar, das schulterlang war. Ihre Augen, die ihr die meisten Komplimente einbrachten, waren braun und hatten goldene Flecken, die im Sonnenlicht funkelten. Da sie täglich joggte, war sie fit und sah jünger
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