Weites wildes Land
den Booten!« Aus reiner Neugier hatte sie sich schon am Nachmittag die beiden Rettungsboote angesehen, die Mr. Freeman erwähnt hatte. Da sie das Schiff nach dieser langen Reise in- und auswendig kannte, fand sie tastend den Weg zum nächstgelegenen Rettungsboot. Schon wurde sie von Händen gepackt, und ein Matrose rief ihr zu: »Rein mit Ihnen, kleine Dame!« Er warf sie dem nächsten Mann in die Arme, und dann wurde sie weitergereicht wie ein Kartoffelsack. Einen kurzen Moment lang überlegte sie, wie die Männer sie in der Dunkelheit überhaupt sehen konnten, doch im nächsten Augenblick rief sie schon nach ihren Eltern. Wo waren sie bloß? Und wer waren all die Leute, die sich an sie klammerten, die auf sie fielen? Als das Boot klatschend auf der Wasseroberfläche aufsetzte, kauerte sie auf seinem Boden. Zwar fuhr ihr der Aufprall in sämtliche Glieder, doch wenigstens war sie an einem sicheren Platz untergebracht. Denn an den gellenden Schreien erkannte sie, daß andere in den tosenden Ozean gerissen wurden. Verzweifelt versuchte sie, die Ohren vor ihren mitleiderregenden Hilferufen zu verschließen, Hilferufe, denen niemand folgen konnte, denn der furchterregend schwarze Ozean hatte seine Opfer schon verschlungen. Inzwischen konnte Sibell einige der Leute im Boot erkennen; Männer fluchten, brüllten sich Kommandos zu und legten sich in die Riemen. »Nein!« schrie sie. »Meine Eltern! Mr. und Mrs. Delahunty! Sie müssen sie doch kennen!« Verzweifelt stieß sie diese Worte wieder und immer wieder hervor und zerrte einen der Männer am Ärmel. »Wir können sie doch nicht auf dem Schiff lassen! Wir müssen zurück!« »Laß mich los, du dummes Ding«, fuhr eine rauhe Stimme sie an. »Laß mich los, oder ich schmeiße dich über Bord.« Dann wurde sie von kräftigen Händen ergriffen und festgehalten. »Seien Sie still«, zischte eine Frau ihr zu. »Machen Sie keinen Ärger; die Männer haben anderes im Kopf.« »Aber das Schiff! Wir müssen zurück aufs Schiff. Hier draußen ist es viel zu gefährlich.« Ihr kam es wie Wahnwitz vor, sich in diesem winzigen Boot dem Ozean anzuvertrauen, wo die Wellen über ihnen zusammenschlugen. Viel sicherer wäre es auf dem großen Schiff, mit all den Leuten, die es steuerten. Da gellte eine Frauenstimme: »Sie geht unter. O Herr im Himmel, hilf uns, sie sinkt!« »Wo? Wo?« schrie Sibell. »Dort hinten«, schluchzte die Frau. Als der erste blaßgraue Schimmer das Ende dieser schrecklichen Nacht ankündigte, sah Sibell den Rumpf der Cambridge Star, der sich zur Seite neigte und unter dem schwankenden Horizont für immer verschwand. Ein Schrei wie aus einer Kehle entrang sich den Passagieren im Rettungsboot, von Stimmen, die so unmenschlich waren, daß Sibell meinte, sie nie im Leben vergessen zu können. Dann begann die Frau neben ihr zu beten: »…Vater unser, der du bist im Himmel…« Sibell fiel in ihr Gebet ein. Dabei bewegte sie nur ein Gedanke: Hoffentlich hatten sich ihre Eltern ins andere Rettungsboot flüchten können!
* * *
Der Zyklon – alle waren sich einig, daß es ein Zyklon gewesen war – hatte sich verzogen. Schweigend und wie benommen saß Sibell zwischen all den Fremden, während das Boot langsam auf die Küste zu gesteuert wurde. Alle waren glücklich, daß sie nicht tagelang ohne Wasser und Lebensmittel auf dem Ozean treiben mußten, denn die Westküste Australiens zeichnete sich bereits deutlich vor ihnen ab. Im Boot befanden sich nur vierzehn Menschen, obwohl eigentlich noch viel mehr hineingepaßt hätten. Sibell haßte sie alle, denn in ihrer Trauer gab sie ihnen die Schuld, daß ihre Eltern nicht gerettet worden waren. Als sie jetzt über die dunkelgraue Wasserfläche blickte, entdeckte sie einen Mann, der sich an einen Holm klammerte, und hielt ihn für ihren Vater. »Dort drüben!« schrie sie auf. »Dort ist mein Vater! Rudern Sie hin!« Sie folgten ihrem Wunsch. Erst wendeten sie das Boot, und dann legten sie sich mit aller Kraft in die Riemen. Beim Näherkommen mußte Sibell allerdings erkennen, daß es nicht ihr Vater war, sondern ein junger Mann. Winkend gab er ihnen zu verstehen, sie sollten sich beeilen, und plötzlich tauchten die vier Männer die Ruder so schnell ins Wasser, als ob sie gegen die Zeit anrudern würden. Sibell, die beobachtete, wie ihre Muskeln sich wölbten und ihnen der Schweiß übers Gesicht lief, bemerkte erst jetzt, daß sie hinter einem schwarzen Hai herhetzten, dessen glitzernde Rückenflosse
Weitere Kostenlose Bücher