WELTEN-NEBEL
hatte ihrem Vater von ihrer Reise berichtet, dann von ihrer Kindheit. Und auch er hatte ihr viel aus seinem Leben erzählt. Eines aber wollte sie noch wissen. „Vater, warum hast du meine Mutter damals verlassen?“
„ Es war nicht meine Entscheidung. Wenn ich gekonnt hätte, ich wäre geblieben. Es war Kurell, dein Onkel, der mich drängte zu gehen. Irgendwie hatte er herausgefunden, dass ich etwas für deine Mutter empfand. Was er nicht wusste, war, wie nahe wir einander wirklich schon gekommen waren. Er wollte seine Schwester wohl vor einer unstandesgemäßen Heirat mit einem Fremden schützen. Seine Motive waren sicher ehrenwert. Jedenfalls forderte er mich auf, sofort das Land zu verlassen. Ich hatte die Wahl, freiwillig zu gehen und ein Schiff und genug Ressourcen für meine weitere Reise zu erhalten, oder aus irgendeinem nichtigen Grund für immer im Gefängnis zu verschwinden. Um deine Mutter nicht gegen ihre Familie aufzubringen, sagte ich nichts und ging einfach heimlich davon. Ich hoffte, sie würde mich schnell vergessen und mit einem anderen Mann glücklich werden.“
„ Es hat nie einen anderen Mann in ihrem Leben gegeben. Ich glaube, sie liebt dich noch immer, obwohl du sie mit deinem Verschwinden so verletzt hast.“
„ Es tut mir unendlich leid. Auch ich liebe sie. Wann immer ich an sie denke, verspüre ich eine große Leere, ganz so, als fehle ein wichtiger Teil meiner Selbst. Hätte ich nicht die Suche nach meinem Vater gehabt, die meinem Leben ein Ziel gab, ich weiß nicht, ob ich den Schmerz um ihren Verlust hätte ertragen können.“
Die Worte ihres Vaters rührten sie zutiefst. Ihr kamen die Tränen, wenn sie an sein Schicksal und das ihrer Mutter dachte. Wie sehr diese beiden Menschen gelitten hatten, nur weil ihr Onkel der Meinung gewesen war, dass sie nicht zusammen sein durften. Das Schlimmste daran war, dass Kurell es nicht zugegeben hatte. In seinen Gesprächen mit Ihel hatte er stets behauptet, nichts von den Geschehnissen zwischen Liwam und Peerin gewusst zu haben. Wenn sie einander erneut begegneten, würde sie ihm gehörig die Meinung sagen.
Liwam hatte ihre Tränen wohl bemerkt und das Gespräch schnell auf ein anderes Thema gelenkt. Und so verbannte sie die schlechten Gefühle. Dieser Tag sollte ein glücklicher sein, schließlich hatte sie ihren Vater und ihren Großvater gefunden und beide hatten sie mit offenen Armen empfangen.
Tag 21 Mond 6 Jahr 3737
Frühling
Refugium der Alten, Martul
Die vorangegangenen fünf Tage waren wie im Flug vergangen. Die Erzählungen und der Austausch von Geschichten hatten kein Ende genommen. Es herrschte eine heitere, fast ausgelassene Stimmung. Nur Waylen war ihr bisweilen etwas nachdenklich erschienen. Doch das mochte daran liegen, dass es nicht seine, sondern ihre Familie war und er sich etwas ausgeschlossen vorkam.
Am Morgen der Sonnenwende aber war die Stimmung eine andere. Eldan und Waylen tauschten verstohlene Blicke, ganz so, als wüssten sie um Dinge, von denen sie keine Ahnung hatte. Es wurde kaum ein Wort gesprochen. Gleich nach der Morgenmahlzeit drängte Waylen sie zu einem Spaziergang. Er schien sein Ziel genau zu kennen, denn er schritt hurtig voran, immer bergaufwärts. Ihr blieb nichts, außer ihm zu folgen.
Ein bisschen kam es ihm wie Verrat vor, als er die nichts ahnende Ihel den Berg Gimji hinaufführte. Eldan hatte entschieden, dass dies der Ort war, an dem sie auf die Entscheidung der Götter harren sollte. Ursprünglich hatte sie alleine gehen sollen, doch Waylen hatte dies nicht zugelassen. Er würde auch diesen Weg mit ihr gehen. Solange es in seiner Macht stand, würde er sie beschützen.
Sie hatten den in zarte Nebelschleier gehüllten Gipfel fast erreicht. Dort lag sie, eine der fünf Nebelquellen, die Martul über fast vier Jahrtausende hinweg mit einem schützenden Nebel umgeben hatten. Eldan hatte recht gehabt, der Nebel war so gut wie verschwunden.
Es war noch nicht ganz Mittag, da standen sie auf dem Gipfel. Ihel schaute ihn an, fragte: „Kannst du mir jetzt endlich sagen, warum du mich hergebracht hast.“
„ Eldan meinte, es wäre der rechte Ort. Hier soll sich deine Bestimmung als Tochter aller Völker erfüllen.“
„ Und das sagst du mir erst jetzt. Wie lange weißt du es schon? Solltest du es mir verheimlichen?“ Sie war aufgeregt, doch das war verständlich.
„ Ich weiß es seit dem Tag unserer Ankunft. Es war meine Entscheidung, es dir vorzuenthalten. Du hast dir immer so
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