Wenn alle Schranken fallen
sie sehr, dass jemand über die Bekanntschaft dieses großen, grüblerischen Mannes unbedingt erfreut wäre.
Gordon zahlte an der Kasse und verließ mit Lydia das Lokal, sorgfältig darum bemüht, sie nicht zu berühren. Ihr Rückweg zu Clements verursachte einen regelrechten Aufruhr. Kunden drückten sich an den Schaufenstern die Nase platt, und die Leute auf der Straße hielten an und starrten ihrer kleinen Gruppe hinterher. Sobald sie den Laden erreichten, lehnte Lydia sich mit einem Seufzer der Erleichterung gegen den Türrahmen.
“Ich möchte mich dafür entschuldigen”, erklärte Gordon. Am liebsten hätte er sie getröstet, aber er wusste, dass es unmöglich war, Lydia hier hindurchzuhelfen, ohne sie noch mehr in Verlegenheit zu bringen.
“Was zum Teufel habt ihr zwei eigentlich erwartet, wenn ihr unter den Augen der ganzen Stadt zu ‘Lewey’s’ spaziert?” Bens Stimme klang barsch und vorwurfsvoll.
“Halt den Mund!”, zischte Gordon ihn an.
Lydia wurde blass. Sie schwankte leicht. Gordon ergriff ihren Arm und stützte sie. “Er hat recht”, stimmte sie zu. “In den letzten beiden Monaten waren Tyler und Macie das Stadtgespräch. Nun bleibt es anscheinend an uns hängen.”
Als sie sich abwandte, festigte er den Griff um ihren Arm. “Lydia …”
“Ich muss jetzt gehen.” Er gab sie frei. Nach einigen zaghaften Schritten drehte sie sich um. “Wir … wir können uns nicht wiedersehen.”
“Ja, ich weiß.” An Ben gerichtet meinte er: “Lass uns das Futter aufladen und Tanya abholen. Ma wartet sicher schon mit dem Abendessen auf uns.”
2. KAPITEL
L ydia dachte lange über ihr Vorhaben nach. Schließlich folgte sie ihrem Instinkt. Falls sie einen Fehler machte, nun, dann geschah er eben.
Nach ihrer Begegnung mit Gordon hatte Lydia unzählige Anrufe erhalten. Besorgte Freunde und Bekannte warnten sie davor, sich noch einmal mit “diesem Mann” sehen zu lassen, und ein anonymer Anrufer befahl ihr auf unmissverständliche Weise, sich von Gordon Cameron fernzuhalten.
Sechzehn Tage lang erinnerte Lydia sich an jedes Wort, jede Geste, jeden Blick. Anfangs suchte sie Trost und Mitgefühl bei anderen, musste dann aber feststellen, dass deren Mitleid nicht besonders tief ging und nur wenig echtes Verständnis enthielt. Auf der Suche nach Zerstreuung verbrachte sie das Wochenende bei ihrem Bruder und seiner Familie in Alabama.
Sogar Dinnereinladungen von Glenn Haraway, einem Parteifreund ihres verstorbenen Mannes, und seiner Mutter, die im Nachbarhaus wohnten, hatte sie angenommen – dreimal.
Niemand schien das Problem zu verstehen, das sie quälte. Sie brauchte eine Antwort auf die einzige Frage, die wirklich zählte. Und niemand außer Gordon Cameron würde ihr die völlige Wahrheit über Tyler und Macie verraten.
Natürlich wusste sie, dass die beiden ein Verhältnis gehabt hatten und bei demselben Autounfall ums Leben gekommen waren. Sowohl Fahrer als auch Beifahrerin waren angetrunken gewesen – eine Tatsache, die von den örtlichen Behörden geschickt vertuscht worden war.
Lydia wusste, dass sie nicht so besessen nach den Hintergründen forschen sollte – dem Wann und Wo und vor allen Dingen dem Warum. Schließlich hatte sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um eine perfekte Politikerfrau zu werden. Sie verzieh Tyler seinen Egoismus, sah über seine Unreife hinweg und vertraute ihm gegen ihr besseres Wissen. Nun, da er tot war und sie nichts mehr zu verlieren hatte, wollte sie es wissen. Und nur eine Person in Riverton war mutig genug, ihr die Wahrheit zu sagen, und würde überhaupt verstehen, weshalb sie sich Gewissheit verschaffen musste.
Lydia bog mit ihrem BMW in die kreisrunde Auffahrt vor dem zweistöckigen Farmgebäude. Zögernd blieb sie neben der offenen Autotür stehen. Vielleicht hätte sie doch besser vorher angerufen? Mit einem tiefen Atemzug schloss sie die Tür. Nur ungern gestand sie sich ein, dass sie sich vor einem Anruf gefürchtet hatte. Davor, dass Gordon sie nicht sehen wollte.
Bevor sie die Stufen erreichte, die zu einer um das ganze Haus laufenden Veranda führten, bemerkte Lydia ein dunkelhaariges Kind, das um die Hausecke kam. Wäre das barfüßige Mädchen nicht so hübsch gewesen, hätte man es leicht für einen Jungen halten können. Es trug zerrissene abgeschnittene Jeans, ein weißes T-Shirt, und sein lockiges Haar war kurz geschnitten. Als die Kleine Lydia sah, blieb sie stehen und lächelte.
“Hi. Wollen Sie Grandma besuchen?”
Für
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