Totenkönig (German Edition)
Prolog
Die Luft war stickig und vom Gestank der Fäulnis geschwängert, doch längst hatte er gelernt, damit zu leben. Er stand bis zur Hüfte in einem trüben Fluss aus Abwasser. Die unterirische Strömung umspielte seine nackten Füße. Von weit oben drang ein schwacher Lichtstrahl durch einen vergitterten Spalt hinab in den Kanalschacht. Gedämpft, jedoch klar und deutlich, hörte er die Stimmen der Menschen auf den Straßen des Stadtreichs Meridias – Menschen, jene sterblichen Kreaturen, denen er gestattete zu leben, zu gedeihen, ihr Glück zu finden, sei es in den Ausbildungslagern der Stadtwachen, den Palästen der Gilden, oder in den Wirtshäusern und Bordellen. Für die Stadtmenschen bedeutete Glück zumeist Reichtum. Es gab viele Wege in Meridias, um Reichtum zu finden und ein kurzes sterbliches Leben so angenehm wie möglich zu gestalten.
Vor langer Zeit, da hatten ihn die Belange der Menschen gekü mmert. Und wie gern hatte er sich früher von ihnen ernährt, wie gern war er in finsteren Nächten hinaus an die Oberwelt getreten, um seine Beute auszuwählen und zu jagen. Doch seit dem Verlust seiner Geliebten war sein einst so legendärer Hunger beinahe wie betäubt. Er jagte nur noch selten. Und er strafte die Welt und auch die Menschen, die in ihr lebten, mit Gleichgültigkeit. Es kümmerte ihn nicht einmal, dass die Scharen einer Gilde sich erdreistet hatten, ihr geheimes Lager in den Tunneln unterhalb des Hafenviertels aufzuschlagen. Früher hätte er sie als Opfer auserkoren und ihr kaltes, lebloses Fleisch den Ratten als Mahl überlassen, heute jedoch ließ er sie gewähren.
Und sogar als er von der Nachricht erfahren hatte, dass im Westen der Welt ein Krieg gegen einen bisher unbekannten Feind entbrannt war und ein unsterblicher Krieger namens Larkyen mit seinem T otenheer den Sieg davongetragen hatte, war er in den Kanälen geblieben. Es war ihm gleichgültig.
Ein Herz, das für die Ewigkeit schlug, konnte hart wie Stahl sein, doch auch der härteste Stahl vermochte Risse zu bekommen und i rgendwann zu bersten. Und selbst Unsterbliche konnten sterben. Was waren Leben und Tod anderes als zwei Welten, die durch eine unzerstörbare Mauer voneinander getrennt waren? So lange Zeit hatte er darauf gewartet, ein Tor inmitten der Mauer zu entdecken und es zu öffnen, um sich aus der anderen Welt zu nehmen, was er begehrte: Jene Geliebte mit Namen Marityr.
Und wenngleich er das Wissen für eine solche Tat besaß, so b esaß er jedoch nicht die erforderliche Macht. Für ein so großes Ereignis war der richtige Moment noch nicht gekommen, doch er war ihm nahe, so nahe wie nie zuvor.
Sein Schlüssel für die Pforte zur Welt der Toten war eine Frau mit Namen Zaira. Er hatte ihren Namen bereits gekannt, noch bevor sie geboren wurde. Und er wusste manche Dinge einfach, so wie die Schwalben den Weg nach Süden wissen und immer wissen werden.
„Marityr“, flüsterte er ihren Namen wie eine Beschwörungsformel in die Dunkelheit des Tunnels hinaus. Er sprach ihn oft aus, in Trauer und Wut, jedoch auch in Vorfreude über ihre Rückkehr. Und während jener Name in der Ferne verhallte, suchte ihn eine Flut von Erinnerungen heim. Erinnerungen an eine Zeit, in der er, der große Erbauer, der Schöpfer, an der Oberwelt gelebt hatte, an der Seite seiner Geliebten.
Marityr war eine riesenhafte Frau mit hellgrauen Augen, die wie die Gestirne des Himmels schimmerten. Ihr Haar glich feinster pec hschwarzer Seide und glänzte im Sonnenlicht. Und ihr Leib war so sehnig wie der eines Gepards und von einem Nimbus archaischer Macht umgeben.
Er stand an ihrer Seite auf dem Gipfel einer Pyramide, und sie ließen ihre Blicke über eine weite Ebene von Gräsern schweifen, die sich bis zu den zackigen Ausläufern des Helyargebirges erstreckte. Der große Fluss, der später den Namen Nefalion tragen sollte, teilte die Ebene. Seine ruhige Wasseroberfläche reflektierte die Strahlen der Sonne und erinnerte aus der Ferne an die Bewegungen einer si lbernen Schlange. An seinen Ufern gab es nur wenige Häuser, primitive Lehmbauten, die in einem beinahe ehrfurchtvollen Abstand von der Pyramide entfernt errichtet waren.
Menschen hatten sich zusammengefunden, um am Fuße der P yramide in einer Geste der Unterwürfigkeit niederzuknien. Sie waren klein im Vergleich zu den Göttern, die sie verehrten, und so zerbrechlich wie Tonskulpturen.
„Hier wird einst die größte Stadt der Welt errichtet werden“, hatte er zu Marityr in
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