Wenn alle Schranken fallen
den Bruchteil einer Sekunde setzte Lydias Herzschlag aus. Die dunklen Augen, die sie ansahen, waren so vertraut, ebenso wie das schwarze Haar, das Grübchen im Kinn und die vollen Lippen. Das musste Molly Cameron sein. Sie war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein kleines weibliches Ebenbild. “Eigentlich wollte ich zu deinem Vater.”
“Er ist unten bei den Hühnerställen.” Das kleine Mädchen stocherte mit einem langen Stock im Sand. “Weiß er, dass Sie kommen?”
“Nein. Ob er wohl trotzdem Zeit für mich haben wird?”
“Ich glaube schon. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?”
Ein großer Hund mit wuscheligem Fell tappte die Stufen der Veranda hinab. Molly hockte sich hin und schlang ihm die Arme um den Hals. “Du darfst auch mitkommen, Bärchen. Aber sei schön vorsichtig. Grandma hat gesagt, wir müssen auf dich aufpassen, bis die Welpen geboren sind.”
Lydia erkannte, dass der dicke Hund trächtig war und Molly die werdende Mutter offensichtlich liebte. “Sie heißt Bärchen?” Sie ging hinüber, um sie genauer anzusehen.
“Stimmt.” Molly lachte. Bei der Bewegung hüpften ihre kurzen schwarzen Locken. “Sie ist je ein Drittel Cockerspaniel, Chow-Chow und Schnauzer, sagt Daddy, aber irgendwie sieht sie wie ein kleiner Bär aus.”
Lydia lachte ebenfalls, erstaunt, wie freundlich und bezaubernd Gordons Tochter war. “Sie erinnert mich wirklich an einen kuscheligen Teddybären.”
“Sie dürfen sie streicheln. Sie mag Sie. Sehen Sie, wie Bärchen mit dem Schwanz wedelt?”
“Ich habe nie einen Hund gehabt.” Lydia beugte sich hinunter. Ihre schlanken Finger fuhren durch das dichte, staubige Fell. “Gehört Bärchen dir?”
“Ja sicher, und Rawhide auch.”
“Wer ist Rawhide?”
“Das ist Bärchens Mann. Der Vater der Jungen.”
Lydia lächelte. Sie genoss die Unterhaltung mit Molly außerordentlich. “Ist Rawhide auch eine Promenadenmischung?”
“Aber nein. Er ist ein Zwergcollie. Bevor meine Tante Tanya Onkel Ben geheiratet hat, gehörte er ihr. Ich glaube, ihr erster Mann hat ihr Rawhide geschenkt.”
“Molly Cameron!” Die raue Stimme kam von der Veranda, wo eine kleine, mollige Frau stand, die Hände in die breiten Hüften gestemmt. Sie war bekleidet mit fleckigen Jeans, einer langen weißen Schürze und einer rosa getupften Bluse. Grüne Plastiksandalen schützten ihre nackten Füße vor den heißen Holzplanken.
Molly sprang auf und lief auf die Veranda. “Grandma, die Lady ist gekommen, um Daddy zu sehen.”
Lydia näherte sich den Stufen, blieb aber stehen, als sie Ruth Camerons hartem, kaltem Blick begegnete. “Hallo, Mrs Cameron. Ich … ich bin Lydia Reid.”
“Ich weiß, wer Sie sind.” Ruth trat an den Rand der Veranda.
“Ich wollte sie gerade zu Daddy bringen”, erklärte Molly.
“Ich glaube kaum, dass Mrs Reid zu den Hühnerställen gehen möchte.” Prüfend sah Ruth die Besucherin an. “Lauf hinunter und erzähl deinem Daddy, dass Besuch auf ihn wartet.”
Sofort gehorchte die Kleine. Lydia fühlte sich ein wenig unbehaglich, da sie nicht wusste, ob sie willkommen war oder nicht. Eines aber war sicher: Ruth Cameron machte sie nervös.
“Kommen Sie hoch, und setzen Sie sich.” Ruth deutete auf einen der großen weißen Schaukelstühle, die auf der Veranda standen. “Falls es Ihnen hier draußen zu heiß ist, könnten wir auch hineingehen, aber eine Klimaanlage gibt es nur in der Küche.”
“Danke, hier gefällt es mir ganz gut.” Langsam kam Lydia die Treppe hinauf. Bevor sie sich in den Schaukelstuhl setzte, wartete sie, bis ihre Gastgeberin auf der Schaukel Platz genommen hatte.
“Das mit Ihrem Mann tut mir wirklich leid.” Ruth löste die Schleife der Schürze, zog sie ab und faltete sie auf ihrem Schoß. “Eine Frau hat es schwer ohne ihren Mann. Mein Hoyt starb, als Gordon gerade sechzehn war. Hat mich mit vier Kindern allein gelassen. Ben war vierzehn, und die Mädchen waren neun und elf.”
“Wie sind Sie nur zurechtgekommen?” Lydia konnte sich nicht vorstellen, mit vier Kindern auf einer Farm festzusitzen.
“Gordon hat die Verantwortung übernommen. Dadurch ist er schnell erwachsen geworden.”
“Hoffentlich stört es Sie nicht, dass ich vorbeigekommen bin.” Aus irgendeinem Grund hatte Lydia das Gefühl, sie müsse erklären, weshalb sie Gordon sehen wollte. “Durch eine seltsame Laune des Schicksals befinden Ihr Sohn und ich uns in einer ähnlichen Situation. Es gibt Dinge, über die ich mit ihm reden
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