Sigma Force 05 - Das Messias-Gen
VORBEMERKUNG ZUM HISTORISCHEN HINTERGRUND
Nun aber werden uns die größten der Güter durch Wahnsinn zuteil, freilich nur einen Wahnsinn, der durch göttliche Gabe gegeben ist.
Sokrates über das Orakel von Delphi
DIE ALTEN GRIECHEN mit ihrem Götterpantheon glaubten fest an die Gabe der Weissagung. Sie verehrten diejenigen, welche die Vorzeichen aus den Eingeweiden von Ziegen zu deuten verstanden, die Zukunft anhand des von einem Opferfeuer aufsteigenden Rauchs oder mithilfe geworfener Knochen vorauszusagen vermochten. Ein Mensch aber genoss bei ihnen die höchste Wertschätzung: das geheimnisvolle Orakel von Delphi.
Fast zweitausend Jahre lang residierte im Apollotempel an den Hängen des Parnass eine Abfolge streng bewachter Frauen. In jeder Generation bestieg eine Frau den Weissagungsthron und nahm den Namen Pythia an. Mittels eingeatmeter Dämpfe versetzte sie sich in Trance und beantwortete Fragen zur Zukunft - alltägliche wie philosophische.
Zu ihren Bewunderern zählten auch bedeutende Gestalten der griechischen und römischen Geschichte: Platon, Sophokles, Aristoteles, Plutarch und Ovid. Auch die Frühchristen
verehrten sie. Michelangelo räumte ihr an der Decke der Sixtinischen Kapelle einen hervorstechenden Platz als Verkünderin des Kommens Christi ein.
Aber war sie vielleicht nur ein Scharlatan, der die Besucher mit kryptischen Antworten täuschte? Wie dem auch sei, eine Tatsache lässt sich nicht bestreiten. Von Königen und Eroberern in der ganzen Welt verehrt, veränderten Pythias Prophezeiungen den Lauf der Geschichte.
Während ihr Wirken nach wie vor geheimnisumwoben ist und weitgehend der Mythologie zugerechnet werden kann, so gibt es doch eine neue Erkenntnis zu vermelden. Im Jahr 2001 entdeckten Archäologen und Geologen unter dem Parnass eine merkwürdige Anordnung tektonischer Platten, durch die Kohlenwasserstoffgase abgeleitet wurden, darunter auch Ethylen, das tranceartige euphorische Zustände und Halluzinationen hervorrufen kann, wie sie in den historischen Schriften beschrieben sind.
Somit hat die Wissenschaft eines von Pythias Geheimnissen gelüftet, doch auf die eigentliche Frage gibt es noch immer keine Antwort: Vermochte das Orakel die Zukunft vorherzusagen? Oder handelte es sich lediglich um einen Zustand göttlichen Wahnsinns?
Erkenne dich selbst,
dann erkennst du den Kosmos und die Götter.
Inschrift am Tempel zu Delphi
398 n. Chr.
Parnass
Griechenland
SIE WAREN GEKOMMEN, um sie zu töten.
Die Frau stand im Säulenvorbau des Tempels. Sie fröstelte in ihrem dünnen Gewand aus weißem Leinen, das sie an der Hüfte gegürtet hatte, doch es war nicht die Kälte des Morgengrauens, die ihr bis ins Mark drang.
Eine mit Fackeln ausgerüstete Kolonne strömte wie ein Feuerfluss die Hänge des Parnass hoch. Sie folgte dem gepflasterten heiligen Pfad, der sich in Serpentinen zum Apollotempel emporwand. Das Trommeln der Schwerter auf den Schilden tönte herauf; eine römische Kohorte, fünfhundert Mann stark. Der Weg schlängelte sich zwischen verfallenen Monumenten und längst geplünderten Schatzkammern hindurch. Alles Brennbare war in Brand gesetzt worden.
Die über die Ruinen tanzenden Flammen schufen die schimmernde Illusion besserer Zeiten und ließen die alte Pracht scheinbar wieder aufleben: von Gold und Geschmeide überquellende Schatzkammern, zahllose, von den besten Bildhauern geschaffene Statuen, wogende Menschenmassen, die sich versammelt hatten, um die Prophezeiungen des Orakels zu vernehmen.
Das aber war Vergangenheit.
Im Laufe der vergangenen hundert Jahre war Delphi von Galliern erobert und von Thrakern geplündert worden. Vor
allem aber war es vernachlässigt worden. Nur noch wenige wandten sich hilfesuchend an das Orakel, etwa ein Ziegenhirt, der an der Treue seiner Ehefrau zweifelte, oder ein Seemann, der nach einem guten Omen für die Fahrt über den Golf von Korinth verlangte.
Dies war das Ende der Geschichte, das Ende des Orakels von Delphi. Nachdem sie dreißig Jahre lang gewahrsagt hatte, würde sie die letzte Trägerin des Namens Pythia sein.
Das letzte Orakel von Delphi.
Diese Bürde aber brachte eine letzte Herausforderung mit sich.
Pythia wandte sich nach Osten, wo bereits der Morgen dämmerte.
Ach, die rosarote Eos, Göttin der Morgendämmerung, würde Apollo drängen, die vier Pferde seiner Sonnenkutsche zu zäumen.
Eine von Pythias Schwestern, eine junge Novizin, trat hinter ihr aus dem Tempel hervor. »Herrin, komm
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