Wenn das Schlachten vorbei ist
werden.
Sie liest den Artikel zweimal und fühlt sich besser, viel besser. Als das Essen gebracht wird, legt sie die Zeitung ausgebreitet auf den Tisch, damit sie die Schlagzeile und das körnige Archivfoto der Pier in Prisoners’ Harbor betrachten kann, das sie für diesen Artikel ausgegraben haben. Der Clamchowder ist köstlich, mit vielen Muscheln, Kartoffelstückchen und Butter, und die Krabben haben ihr noch nie so gut geschmeckt. Zum Schluss wischt sie den Teller mit Stücken von dem warmen Sauerteigbrot ab, worauf man hier so stolz ist, und stellt dann fest, dass sie zuviel gegessen hat. So jedenfalls fühlt sie sich. Als sie schließlich aufsieht, ist es nach drei Uhr, und trotz des Energieschubs, den ihr der Eistee gegeben hat, schafft sie es kaum, sich vom Stuhl zu erheben. Sie ist schläfrig und erschöpft, doch als ihr der Gedanke kommt, sie könnte heute einmal früher Feierabend machen, schiebt sie ihn sogleich beiseite.
Sobald sie draußen ist, zwingt sie sich zu einer schnelleren Gangart, marschiert zügig voran und atmet die Meerluft in tiefen Zügen ein. Der Yachthafen liegt ruhig da, der Parkplatz ist wieder nur ein Parkplatz. Es weht ein leichter, duftender Wind aus Süd, der einen Vorgeschmack des Frühlings mit sich bringt, und sie bleibt einen Augenblick auf dem Stück Rasen hinter dem Park-Service-Gebäude stehen und wendet ihm ihr Gesicht zu, während der Hausmeister aus der Hintertür tritt, um seinen Mop auszuschütteln, und ein halbes Dutzend Stare sich um ein paar auf dem Weg verstreute Pommes frites streiten. Dann sitzt sie wieder an ihrem Schreibtisch, und ihre Stimmung wird finsterer, als sie Alicias leeren Platz sieht. Wenn sie Alicias Beurteilungsbogen auszufüllen hat, wird sie ihrem Gewissen folgen müssen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Und sollten dabei irgendwelche Gefühle verletzt werden, dann tut es ihr leid.
Sie arbeitet bis sechs und versucht, die am Vormittag wegen des Gerichtstermins liegengebliebene Arbeit zu erledigen, ist aber nicht allzu streng mit sich selbst, denn ohne den Vorfall in Willows Cove wäre sie jetzt noch immer auf der Insel. Sie denkt daran, an die Szene am Strand, an die tote Frau, als sie die Tür abschließt und die Treppe hinunter und über den leeren Parkplatz zu ihrem Wagen geht. Als sie zusammen mit den Männern und den Hunden über den Strand ging, fühlte sie sich stark, als hätte sie alles fest in der Hand, und als sie die Umrisse des dicken, reglosen Bündels unter dem nassen Poncho sah, dachte sie zunächst, es handle sich um ein Schwein, um eines der abgeschossenen Schweine, das man aus einem Graben geborgen hatte, um es zum Festland zu bringen und auszustellen. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Es war gesetzlich verboten, irgend etwas von der Insel zu entfernen, sei es Tier, Pflanze oder Mineral, und nun hatten sie diese Leute auf frischer Tat ertappt: Als wäre es noch nicht genug damit, dass sie unbefugt hier waren und versuchten, ein Projekt zu sabotieren, das den Steuerzahler bereits Millionen gekostet hatte, hatten sie nun auch noch versucht, sich ein Wildtier anzueignen, es zu stehlen und für ihre Zwecke zu benutzen, wo doch jeder wusste, dass alle Wildtiere, ob auf öffentlichem oder privatem Grund, Eigentum des Staates waren. Sie war erregt, erfüllt von grimmiger Freude, sie erwischt, endlich erwischt zu haben, doch dann ließen ein paar Tropfen Harz das Feuer auflodern, und sie erkannte, dass das Bündel unter dem Poncho etwas ganz anderes war.
Der Verkehr auf der dunklen Schnellstraße ist dicht, ein sich windender Strom aus sacht leuchtenden roten Lichtern, der sie dahinträgt. Sie schaltet das Radio ein, hört sich die Nachrichten an, wechselt zu einem Musiksender und versucht, nicht an die tote Frau zu denken, nicht an Tim und das Kind, das in ihr wächst, und nicht daran, was sie den Leuten sagen wird, wenn es nicht mehr zu verbergen ist. Es wird ein Song gespielt, den sie mag und der kaum je im Radio zu hören ist – »I Came So Far for Beauty« von Leonard Cohen, gesungen von Jennifer Warnes –, und sie versucht mitzusingen, aber die Worte purzeln an ihr vorbei, und nach dem zweiten Refrain verstummt sie.
Zuerst hält sie an dem Lebensmittelgeschäft im Lower Village – nach dem reichlichen Mittagessen braucht sie nicht viel: ein Stück Lachs (aus Aquakultur, mit Farbstoff) und einen Beutel Spinat für die Mikrowelle – und dann beim Videoverleih. Sie braucht lange, um sich etwas auszusuchen, und arbeitet
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