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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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PROLOG
    Ich saß im Büro des Rechtsanwalts und betrachtete die aufgereihten Diplome an der Wand. Den Text konnte ich auf keinem lesen, was ich nur angemessen fand; eine passende Vorbereitung darauf, wie das Rechtssystem funktionierte. Gerade wollte ich aufstehen, um mir die Sache mal aus der Nähe anzusehen, als der Chef persönlich hereinkam, ein kleiner, dunkelhaariger Typ, und mich mit sanfter Stimme und schmierigem Händedruck begrüßte. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und gab mir einem Wink, es mir bequem zu machen. Konnte er vergessen. Er zog eine dünne blaue Mappe hervor, legte sie auf den Schreibtisch und faltete die Hände darauf.
    »Ian«, begann er. »Wie Sie wissen, regele ich den Nachlass Ihrer Mutter.«
    »Ich wusste nicht mal, dass sie einen hatte.«
    »So gut wie jeder Mensch hat einen Nachlass, Ian.«
    »Was Sie nicht sagen.«
    Er nickte, als hätte es sich allein wegen dieser Nachricht gelohnt, die Bahnfahrt hierher auf sich zu nehmen.
    »Im Fall Ihrer Mutter war es nicht viel. Das Haus, etwas unter fünftausend Dollar auf dem Konto und eine kleine Versicherungspolice zur Deckung ihrer letzten Kosten.«
    An letzte Kosten hatte ich gar nicht gedacht und war überrascht, dass meine Mutter es getan hatte. Aber wie ich bald feststellen sollte, war meine Mutter noch für einige Überraschungen gut.
    »Sie hat Ihnen noch etwas hinterlassen«, sagte der Anwalt. »Aus dem Grund habe ich Sie hergebeten.« Er entnahm der blauen Mappe einen Briefumschlag. »Ihre Mutter hat darauf bestanden, dass Sie den Brief allein lesen. In diesem Büro. Wenn Sie ihn gelesen haben, erhalten Sie von mir eine eidesstattliche Erklärung, die Sie unterschreiben müssen. Danach kann ich das Geld freigeben.«
    »Danke, aber das Geld können Sie behalten.«
    Der Anwalt sah mich an, als hätte ich dem Papst in den Magen geboxt oder sonst jemandem, der unfehlbar war. »Das kann ich nicht, Ian.«
    »Haben Sie ihn gelesen?« Ich nickte in die Richtung des Umschlags.
    »Der Umschlag ist versiegelt. Niemand außer Ihrer Mutter hat den Brief gelesen. Und jetzt lesen Sie ihn.« Er legte den Umschlag auf den Schreibtisch und stand auf. »Lassen Sie sich Zeit. Wenn Sie fertig sind, erledigen wir die Formalitäten und besprechen die notwendigen Vorkehrungen für die Beisetzung.«
    Der Anwalt verschwand. Ich starrte auf den Briefumschlag. In der verschnörkelten Schreibschrift meiner Mutter erkannte ich darauf meinen Namen und spürte, wie etwas in mir nachgab. Ich zog ihn zu mir rüber. Dickes Papier. Teuer. Innen offenbar ein gefalteter Briefbogen. Vielleicht zwei. Ich schob meinen Finger unter die Lasche und erbrach das Siegel. Dann zog ich den Brief heraus und las ihn.

EINS
    Das Seminar fand in Fisk Hall statt, einem der ältesten Gebäude auf dem Campus der Northwestern University. Unter seiner verkrusteten Schale schlug das Herz der Medill School of Journalism. Ich setzte mich hinten in den Seminarraum. Vorn wurde eine rote Mähne geschüttelt; ein Hund, der aus dem Regen kommt. Eine Hand winkte mich herbei.
    »Kommt nicht infrage, Mr Joyce.«
    Seufzend schnappte ich mir meinen Rucksack und setzte mich nach vorn. Die Haarmähne teilte sich und enthüllte eine auffallend lange Nase und veilchenblaue Augen.
    »Mein Name ist Judy Zombrowski. Sie können mich Z nennen. Kennen Sie Ms Gold?«
    Z wies auf die Frau zu meiner Linken. Sie hatte ein kantiges Kinn, hohe Wangenknochen und langes brünettes Haar, das in der späten Nachmittagssonne rötlich schimmerte. Sarah Gold winkte mir zu. Ich fühlte mich benommen. Wunderbar benommen.
    »Wir kennen uns aus dem Grundstudium«, sagte Sarah und lächelte mich an, als hätten wir in diesen vier gemeinsamen Jahren je mehr als zwei Worte gewechselt.
    »Natürlich kennen Sie sich.« Z schaute über die Bankreihen. »Wir warten noch auf jemand.«
    Hinter uns flog eine Tür auf.
    Der dritte Student unseres Sommer-Graduate-Seminars war groß gewachsen und kantig, mit muskulösen Schultern und ausgeprägter Kinnpartie, die von blonden Bartstoppeln bedeckt wurde. Seine Augen waren verschattet, ihr Ausdruck nicht zu deuten.
    »Jake Havens?« Zs Stimme hallte in dem leeren Raum wider. Havens setzte sich auf den Platz, den ich mir anfangs ausgesucht hatte.
    »Was ist nur mit Ihnen los?« Z winkte Havens zu sich. »Nach vorn.«
    »Danke, ich sitze hier ganz gut.« Seine Stimme klang rau und abgehackt, wie ein Wagen, der im ersten Gang stottert. Er wirkte schon älter. Womöglich in den

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