Wenn der Golem erwacht
vergeblich, seiner Bitte nachzukommen. Zwar öffnete ich die Lippen, um meinen Namen zu nennen, aber ich brachte nur ein hilfloses Gestammel hervor.
Wie sollte ich Ambeus einen Namen nennen, den ich selbst nicht wusste?
Es war ähnlich, wie wenn man nach seinem Alter gefragt wird. Man kennt sein Geburtsdatum haargenau, hat es tausendmal aufgesagt und auf Formulare geschrieben. Aber das genaue Alter? Man weiß es einfach nicht, fängt an zu rechnen, wie viele Monate in diesem Jahr schon vergangen sind. Bei mir aher war es viel schlimmer. Mir fehlte jeder Anhaltspunkt. Ich wusste weder meinen Namen noch mein Alter, noch mein Geburtsdatum.
Vergeblich versuchte ich mich zu erinnern, wo ich wohnte, welchen Beruf ich hatte, wer meine Eltern waren, ob ich verheiratet war, ob ich Kinder hatte. Alle Schubladen, die ich im Geiste aufzog, gähnten mir leer entgegen.
Nur ein paar Satzfetzen beherrschten mein Denken, wirbelten durcheinander, verdrängten alles andere: Das limbische System … ein sehr komplexes Gebilde aus mehreren Hirnstrukturen … verantwortlich dafür, an was der Mensch sich erinnert und was er vergisst … winzige Splitter eingedrungen … irreparable Schäden …
Es war wie ein Kreisel, der sich schneller und schneller drehte. Statt des singenden Brummtons spie er die Satzfetzen aus, die mich erschreckten. Nein, nicht die bruchstückhaften Sätze erschreckten mich, sondern die Erkenntnis dessen, was dahinter stand: Meine Identität, mein Leben, mein Ich – alles war ausgelöscht, vielleicht für immer.
I rreparabel?
Ich bemerkte kaum, wie die drei Ärzte und die Schwester in Hektik verfielen. Sie drehten an den Apparaturen, gaben mir eine Injektion. Diesmal verlor ich nicht das Bewusstsein, obwohl ich mir fast wünschte, in dem Blutmeer mit den anklagenden toter Augen zu versinken. Dann wäre wenigstens die quälende Sorge um mein Ich verschwunden.
Der unsichtbare Kreisel wurde langsamer, das Bild des Krankenzimmers mitsamt den vier menschlichen Gesichtern stabilisierte sich, ich atmete ruhiger, konnte wieder klar denken.
Aber ich konnte mich nicht erinnern!
Nur mühsam brachte ich es über die Lippen: »Ich weiß nichts. Ich kenne meinen Namen nicht, weiß nicht, wer ich bin!«
»Erinnern Sie sich an gar nichts?« Ambeus bohrte seinen Blick in meinen. »Denken Sie nach! Vielleicht eine Kleinigkeit, eine Adresse, ein Straßenname nur, eine Hausnummer oder eine Telefonnummer? Oder der Name eines Menschen, der Ihnen nahe steht?«
Er hätte mich ebenso gut bitten können, das Neue Testament auf Lateinisch aufzusagen. So krampfhaft ich auch nach einer Erinnerung suchte, nach einem Gesicht, einem Namen, einem Haus oder einer Straße, alles blieb im Dunkel.
»Können Sie mir nicht auf die Sprünge helfen, Dr. Ambeus?«
»Wie stellen Sie sich das vor?«
»Sagen Sie mir einfach, welcher Name in meinen Papieren steht. Vielleicht kehrt die Erinnerung dann zurück!«
»In Ihren Papieren?« Ein Schatten legte sich auf das Gesicht des Arztes.
»Ja! Ich muss doch eine Brieftasche bei mir gehabt haben, einen Ausweis, Führerschein, Blutspendepass, irgendetwas in der Art!«
Ambeus zwang seinem unbeteiligten Gesicht einen mitleidigen Ausdruck auf. »Bedaure, aber nach dem Polizeibericht trugen Sie nichts bei sich. Ihre Taschen waren leer. Keine Papiere, keine Schlüssel, kein Geld, nichts.«
Vielleicht starrte ich ihn nur dreißig Sekunden schweigend an, vielleicht aber auch volle fünf Minuten. Bis ich schließlich fragte: »Nicht ein einziger Hinweis auf meine Identität?«
»Leider nicht.«
»Was sagt die Polizei? Vielleicht gibt es eine Vermisstenmeldung, die auf mich passt.«
»Negativ.«
»Oder jemand erkennt mein Foto in einer Zeitung!«
»Wurde schon versucht, ohne Erfolg.«
Dr. Ambeus schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, jede Hoffnung im Keim zu ersticken. Ich verspürte einen brennenden Zorn auf den Arzt. Hätten mich die Fesseln nicht fest gehalten, wäre ich wohl aufgesprungen und ihm an die Gurgel gefahren. Natürlich traf ihn keine Schuld an meiner Lage, aber ich hatte niemanden sonst, an dem ich meine Wut und Verzweiflung abreagieren konnte, nicht einmal mich selbst.
Eine bittere Erkenntnis lenkte mich ab, als ich versuchte, mir den Zeitungsaufruf mit meinem Foto vorzustellen. Das Foto mit meinem Gesicht blieb vor meinem geistigen Auge verschwommen, wie von einem dichten Nebel eingehüllt. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte mich nicht an mein Gesicht
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