Hexenjagd
1
„Denk dran! Komm nicht so spät heute Abend!“
„Du weißt genau, ich kann nicht einfach gehen, wann es mir in den Kram passt! Was denkst du denn?“ Celiska verdrehte heimlich die Augen, derweil sie ihr gebrauchtes Frühstücksgeschirr in die Küche trug.
„Du musst dem Herrn mal Paroli bieten“, nörgelte die Mutter im Wohnzimmer. „Schließlich kriegst du die Überstunden noch nicht einmal bezahlt! Denkt er vielleicht, er hätt’s mit Leibeigenen zu tun, die kein Privatleben haben?“
Die junge Frau sparte sich eine Erwiderung, wohl wissend, dass dies bloß zu weiteren Diskussionen geführt hätte, für die sie jetzt aber keine Zeit mehr hatte. Also streifte sie hastig ihren Mantel über, schlüpfte in die dicken Winterstiefel und langte nach der Handtasche.
„Bis heute Abend, Mama!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie die kleine Mietwohnung und eilte zur Bushaltestelle. Unterwegs fror sie erbärmlich, denn die Kälte des Novembermorgens schien trotz des dicken Mantels und der warmen Kleidung darunter bis auf die Knochen dringen zu wollen. Selbst ihr schneller Lauf half nicht, sie aufzuwärmen. Und die Tatsache, dass der Bus noch nicht in Sicht war, machte sie ärgerlich. Warum konnte der nicht ein einziges Mal pünktlich kommen, fragte sie sich erbost. Wenigstens heute Morgen!
Endlich bog das lange Gefährt um die enge Kurve der Straßenabzweigung und blieb vorsichtig stehen. Man hatte zwar am frühen Morgen einen Streuwagen losgeschickt, doch die Fahrbahnen waren nach wie vor tückisch, weil man Salz statt Splitt gestreut hatte, so dass die Schneedecke nur oberflächlich angetaut war und nun einen äußerst rutschigen Untergrund abgab.
Celiska stieg ein und ergatterte einen Sitzplatz in der Nähe der Heizung. Den Schal abwickelnd und den Mantel aufknöpfend, sah sie sich um, grüßte die eine oder andere vom Sehen bekannte Person und starrte dann aus dem Fenster. Die Lippen fest aufeinander gepresst, ließ sie ihre Gedanken wieder zur Mutter zurückwandern: Zwei Jahre war es nun her, erinnerte sie sich, da war der Vater einem schweren Herzanfall erlegen. Sie selbst war damals wie gelähmt gewesen. Doch ihre Berufsausbildung, in der sie gerade steckte, und die völlig gebrochene Mutter, die rund um die Uhr Trost und Zuwendung forderte, zwangen sie, ihren eigenen Schmerz vorübergehend beiseite zu schieben. Ungeachtet der eigenen Trauer und der normalen Bedürfnisse und Interessen eines Teenagers hatte sie nur noch an die Wünsche der älteren Frau gedacht und deren Forderungen erfüllt.
Anfangs war es ihr völlig normal erschienen, dass sie für die Mutter da sein musste, denn früher war es schließlich andersherum gewesen. In letzter Zeit fühlte sie sich allerdings wie eine Gefangene. Keine freie Minute hatte sie für sich, dachte sie mit wachsendem Ärger. Sobald sie von der Arbeit kam, musste sie sich an den gedeckten Tisch setzen und mit der Mutter essen. Ob sie nun Hunger hatte oder nicht, spielte überhaupt keine Rolle für die penetrant fürsorgliche ältere Frau. Den restlichen Abend verbrachte sie in dem kleinen Wohnzimmer, um sich immer wieder dieselben Geschichten anzuhören, die stets von der „guten“ alten Zeit handelten, als der Vater noch da war. Es war beileibe nichts dagegen einzuwenden, dass die Mutter die Erinnerung an ihren Mann wachhielt. Aber das nahm mittlerweile beängstigende Formen an. Es durfte nichts mehr verändert werden – weder in der Wohnung noch im Lebensablauf. Es fehlte nur noch, dass man einen minuziösen Plan aufstellte, wonach Celiska zu schlafen, baden und sprechen hatte. Auf die schüchternen Andeutungen, ab und an auch mal allein weggehen zu wollen, zum Beispiel ins Kino oder zu einem Konzert, hatte die Mutter reagiert, als werde sie sich dann umbringen. Selbst Celiskas Freundin Verena wurde nicht akzeptiert, weil man sie als Störfaktor ansah. Kam sie tatsächlich mal zu Besuch, was immer seltener wurde, strafte die Mutter sie mit Unfreundlichkeit oder ignorierte sie gar. Mittlerweile sahen die Freundinnen sich nur noch in den Arbeitspausen, weil das die einzige Zeit war, in der man sich ungestört unterhalten oder gemeinsam etwas unternehmen konnte.
Es wurde wirklich Zeit, dass Celiska sich eine eigene kleine Wohnung nahm. Die Mutter bezog eine gute Witwenrente, war also nicht auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Und sie selbst verdiente jetzt als Sekretärin genug, um sich ernähren zu können. Ein bisschen Abstand würde der
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