Wenn du mich brauchst
Richtung unseres Johannisbrotbaumes. Die alte Schaukel bewegte sich hin und wieder leicht in ihren Angeln, obwohl eigentlich kein Wind zu spüren war. Los Angeles lag unter der gewohnten Smogdecke. Der ebenfalls gewohnte morgendliche Küstennebel hatte sich an diesem Tag nicht aufgelöst, der Himmel war milchig grau, als leide er an Sauerstoffmangel. Alles wirkte irgendwie verwaschen.
Jonathan spielte mit Nervensäge Arik und unsere israelische Großmutter war dazu abkommandiert, ihn in die Schranken zu weisen, wenn er zu wild wurde. Vom Herumtoben bekam er immer noch leicht Fieber und Fieber war das Letzte, was sein angegriffener Organismus zurzeit gebrauchen konnte.
Unser Vater war mit Lori in Sachen Geigenbau unterwegs und unsere Mutter versuchte zusammen mit unserem Großvater, bei den Ausländerbehörden ein Aufenthaltsvisum für Chajm zu beschaffen.
Zuerst sprachen wir über Religion.
»Ich denke, ich werde nach der Hochzeit mein Haar bedecken«, erklärte Rivki und trank einen Schluck Cola, nachdem sie sich noch einmal bei David versichert hatte, dass die Lebensmittel in unserem Haus auch wirklich koscher seien.
»Schade bei deinen schönen Haaren«, sagte Chajm mit seinem holperigen Akzent bedauernd. Sofort funkelte David ihn warnend an.
»Meine Mutter trägt ebenfalls einen Scheitel, wenn sie aus dem Haus geht. Was ist dabei? Es gibt sehr schöne Perücken. – Ansonsten werde ich Mützen oder Kappen aufsetzen. Meine Freundin, die schon verheiratet ist, zieht immer eine lustige Baseballkappe auf. Natürlich werde ich nicht im Kopftuch gehen! – Ich dachte, wenigstens du, der du aus Israel kommst, würdest mich verstehen.«
Chajm machte ein nachdenkliches Gesicht, aber er schwieg.
Shar starrte Rivki an, als wäre sie eine Erscheinung.
»Was ist?«, fragte Davids Freundin, der das nicht entging.
Shar hob eine Spur verlegen die Schultern.
»Also – was?«, beharrte Rivki.
Shar warf mir einen Blick zu. »Das kommt mir alles so …« Sie suchte nach Worten. »… so mittelalterlich vor«, sagte sie dann. »Ich meine, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ist dir das vielleicht irgendwie entgangen?«
»Shar, nicht jeder ist so ein Punk wie du«, schnauzte David in Sharonis Richtung.
Das sagte ausgerechnet David, der so lange in Shar verknallt gewesen war? Ich verbiss mir einen dementsprechenden Kommentar, um ihn nicht weiter zu reizen.
»Ich werde auch die Mikwe besuchen, sobald ich geheiratet habe«, erklärte Rivki kühl und meinte damit ein rituelles Badehaus.
Ich sah, dass unsere Großmutter uns zuhörte, aber sie mischte sich nicht ein. Die Gemeinde meines Großvaters war eine gemäßigt religiöse Gemeinde. Frauen, die ihr Haar bedeckten, gab es dort eher wenige.
Wir redeten noch eine Weile hin und her und irgendwann verlagerte sich das Gespräch auf Allgemeineres, bis Rivki von den neuen Nachbarn zu erzählen begann, die auf dem Nachbargrundstück ihres Elternhauses in der Nähe von San Francisco eingezogen waren.
»Deutsche«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Zumindest die Frau. Er ist jüdisch. Und außerdem ein erfolgreicher Herzchirurg. Aber sie stammt aus Deutschland. Zwar kam sie schon als Kind nach Kalifornien – aber sie ist dennoch Deutsche! Auch wenn sie jedem, der es hören – oder auch nicht hören will – von ihrem amerikanischen Pass erzählt, so als wolle sie sich rechtfertigen … Deutsche bleiben für mich immer Deutsche! Ich zumindest will nichts mit ihr und ihren Kindern zu schaffen haben!«
Ich spürte, wie mein Puls sich beschleunigte, und Chajm schien es ebenfalls zu spüren. Er drückte für einen Moment unauffällig meine Hand. David starrte vor sich hin auf einen imaginären Punkt irgendwo am Ende des Gartens.
»Ich bin übrigens auch zur Hälfte – Deutsche …«, hörte ich mich dann auf einmal sagen. Meine Stimme klang hohl, aber auch wütend. »Hat Dave dir nichts davon erzählt?«
Ich umriss ihr in wenigen Sätzen meine Herkunftsgeschichte.
Hinterher war es für einen Moment ganz still.
»Stimmt das, David?«, fragte Rivki dann. Sie bohrte ihren Blick in den meines Bruders.
David fuhr auf einmal herum. »Musste das sein, Hannah?«, blaffte er mich an.
»Was?«, fragte ich genauso wütend zurück.
Rivki schaute zwischen uns hin und her. »Hat – sie wirklich eine … deutsche Mutter?«, hakte sie unerbittlich nach. Ich fühlte mich in diesem Moment wie eine Aussätzige. Jonathan, Arik und meine Großmutter waren vor einer Weile zurück
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