Wenn du mich brauchst
Esther?«
Ich antwortete an ihrer statt. »Sie hat keine Zeit, Dave!«, rief ich ihm zu. »Sie ist gerade im Arbeitszimmer und schreibt im Holocaust-Chat mit diesem Holocaust-Heinrich.«
Holocaust-Heinrich war ein uralter Mann aus Deutschland, der wie Esther in Auschwitz gewesen war. Er war ein deutscher Widerstandskämpfer gewesen und die Nazis hatten ihn so gefoltert, dass er beide Beine verlor. Heute lebte er in Schottland und engagierte sich im Kampf gegen das Vergessen. Er arbeitete für das Museum Auschwitz und suchte immerzu akribisch nach anderen Überlebenden, um mit ihnen in Kontakt zu treten und sie für die Gedenkveranstaltungen vor Ort zu gewinnen.
Leben. Lieben. Kämpfen, Esther! , las ich, als ich meiner Urgroßmutter eine Weile später im Arbeitszimmer über die Schulter schaute, wo sie am alten Apple meines Vaters saß.
»Das macht man nicht, Hannah. Man spitzelt nicht«, brummte Esther streng.
»Er schreibt immer so leidenschaftlich«, sagte ich beeindruckt. »Ich glaube, er mag dich sehr, Esther.«
»Unsinn, er ist ein verrückter Tattergreis, der nicht vergessen will. Und er sucht seinesgleichen«, sagte Esther und tippte Ich muss jetzt wirklich Schluss machen, Heinrich in das kleine Chatfenster.
In Ordnung, meine Beste, schrieb Heinrich zurück. Trink nicht so viel, hörst du? Du wirst noch gebraucht!
»Du hast ihm vom Wermut-Trinken erzählt?«, fragte ich verblüfft.
»Was heißt erzählt?«, sagte Esther gereizt und schaltete ohne ein weiteres Wort den Computer aus. »Dieser Heinrich popelt irgendwie alles aus einem raus. Er ist gewieft.«
Und damit stand sie abrupt auf und ließ mich stehen.
Der Tag endete fröhlich. David flirtete mit Sharoni und ich unterhielt mich lange mit Gabriel über alles Mögliche. Ezra spielte mit meinem kleinen Bruder an seiner geliebten Playstation, die beiden machten einen Riesenkrach und mein kleiner kränklicher Bruder hatte großen Spaß. Alle fünf Minuten erzählte er aufgeregt, dass wir morgen zusammen ins Disneyland fahren würden.
Sharoni hatte die Einladung meiner Mutter mitzukommen strahlend angenommen.
»Und ihr wollt da wirklich mit hin? Ihr seid doch keine Kleinkinder mehr!« David lachte uns aus.
»Jeder liebt Disneyland«, erklärte Shar ungerührt und wickelte ihre wilden bunten Haarsträhnen mit den Fingern in einen lockeren Knoten auf ihrem Hinterkopf. »Es gibt nur nicht jeder zu.«
7. SKY
»Das Kleid ist perfekt, Sky!«, sagte Kendra begeistert. »Du siehst wunderschön aus.«
Ich hatte mich für ein lila-schwarzes Kleid entschieden, dessen Schnitt an Doris Day und die Fünfzigerjahre erinnerte. Wir waren bei Crazy Butterfly in der Umkleidekabine und ich drehte mich vor dem großen Spiegel. Eine punkig angehauchte Verkäuferin freute sich über unseren Enthusiasmus.
»Hey, ihr seid die Einzigen, die wegen eines Abschlussballkleides hier reinschneien! Das ist abgefahren. Alle anderen gehen eher zu Sear s oder so.«
Das Kleid kostete deutlich weniger als die zweihundert Dollar, die Leek mir gegeben hatte, und darum kaufte ich noch lila Lackpumps in Kendras favorisiertem Schuh-Store und anschließend zwei Schoko-Donuts und zwei Eiskaffees für uns bei Dunkin’ Donuts .
»So könnte das Leben immer sein«, seufzte ich und lehnte mich wohlig auf meinem Dunkin’-Donuts -Stuhl zurück, während Kendra die Lieder auf meinem kleinen, schon etwas altersschwachen iPod durchsah. Die Sonne schien heiß vom Himmel, aber weil es angenehm windig war, waren die Wärme auszuhalten und der Smog erträglich.
»Pearl Jam, Spin Doctors, Metallica, Crash Test Dummies, Greenday, Owl City, Joe Satriani, Yo Yo Ma …«
Kendra schaute mich an. »Yo Yo Ma?«, wiederholte sie. »Was ist das denn? Ein Brotaufstrich?«
»Nein. Ein Cellist. Ich liebe seine Musik.«
Kendra schüttelte den Kopf und vertiefte sich wieder in mein Musikverzeichnis.
»Eminem, Lady Gaga, Die Entführung aus dem Serail von Mozart, Brian Baker …«
Wieder hob sie fragend den Kopf.
»Ein Punk-Gitarrist«, erläuterte ich und trank einen Schluck Eiskaffee. »Seine Musik liebe ich auch.«
»Sex Pistols, Dead Kennedys, Nirvana …« Kendra lachte. »Alleine deine Musikauswahl zeigt mir immer wieder, dass du anders bist als alle anderen, die ich kenne. Meine Mutter misstraut dir aus diesem Grund schrecklich. Sie denkt, du verdirbst mich. Ein wunderbarer Gedanke.«
Kendras Eltern waren gläubige Baptisten und früher war Kendra, zumindest ihren eigenen Erzählungen nach,
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