Wenn ein Reisender in einer Winternacht
zwischen anderen Leuten, hängst mit der einen Hand an einem Haltegriff und versuchst mit der freien anderen, das Buch auszupacken, ein bißchen zappelig wie ein Affe, der eine Banane schälen und dabei weiter an seinem Ast baumeln will. Paß auf, du stößt die Nachbarn an. Entschuldige dich wenigstens.
Oder vielleicht hat der Mann an der Kasse das Buch gar nicht eingepackt, sondern es dir in einer Tragtasche überreicht. Das vereinfacht die Sache. Du sitzt am Steuer deines Wagens, hältst vor einer Ampel, ziehst das Buch aus der Tragtasche, reißt die Zellophanhülle ab und machst dich daran, die ersten Zeilen zu lesen. Ein Hupkonzert geht hinter dir los: Es ist grün, du behinderst den Verkehr.
Du sitzt im Büro an deinem Schreibtisch und hast das Buch wie von ungefähr zwischen deine Geschäftspapiere gelegt; irgendwann nimmst du eine bestimmte Akte zur Hand, und da liegt es vor dir. Du schlägst es beiläufig auf, stützt die Ellbogen auf den Tisch, stützt die Schläfen in die geballten Fäuste, es scheint, als wärst du ins Studium eines Dossiers vertieft, in Wahrheit erforschst du die ersten Seiten deines Romans. Du lehnst dich langsam zurück, balancierst auf den Hinterbeinen des Stuhls, ziehst eine Seitenschublade aus dem Schreibtisch, um die Füße darauf zu stellen, denn die Fußstellung ist beim Lesen von größter Bedeutung; schließlich streckst du die Beine aus und legst sie lang auf den Tisch, quer über die unerledigten Vorgänge.
Scheint dir das nicht ein bißchen respektlos? Nicht deiner Arbeit gegenüber, versteht sich (niemand würde sich anmaßen, deine berufliche Leistung in Frage zu stellen; nehmen wir an, deine Pflichten fügen sich zwanglos in jenes System unproduktiver Tätigkeiten, das einen so großen Teil der Volks- und Weltwirtschaft ausmacht), aber dem Buch gegenüber. Zumal wenn du gar - aus Not oder Neigung - zu jenen Menschen gehören solltest, für die arbeiten wirklich arbeiten heißt, also etwas leisten, ob willentlich oder absichtslos, das auch für die anderen nützlich ist oder jedenfalls nicht ganz unnütz; dann nämlich wird dir das Buch, das du dir als eine Art Amulett oder Talisman an den Arbeitsplatz mitgebracht hast, zu einer permanenten Versuchung, es zieht deine Aufmerksamkeit immer wieder für ein paar Sekunden von ihrem Hauptgegenstand ab, sei dieser nun ein elektronischer Datenspeicher, die Herdbatterie einer Großküche, das Schaltgestänge einer Planierraupe oder ein Patient mit offenliegenden Eingeweiden auf dem Operationstisch.
So ist es wohl alles in allem besser, du bezwingst deine Neugier und schlägst das Buch erst zu Hause auf. Also jetzt. Du sitzt ruhig in deinem Zimmer, du öffnest das Buch auf der ersten Seite, nein, auf der letzten, du willst erst mal sehen, wie lang der Roman ist. Glücklicherweise ist er nicht allzu lang. Lange Romane von heutzutage sind vielleicht etwas unzeitgemäß: Die zeitliche Dimension ist zerbrochen, wir leben und denken nur noch in Fragmenten von Zeit, die jeweils auf einer eigenen Bahn davonfliegen und im Nu entschwinden. Zeitliche Dauer finden wir nur noch in Romanen aus jener Epoche, als die Zeit nicht mehr stillzustehen und noch nicht explodiert zu sein schien, eine Epoche, die alles in allem rund hundert Jahre währte, nicht länger.
Du drehst das Buch in den Händen und überfliegst die Sätze auf der Rückseite, auf dem Waschzettel: Allgemeinheiten, die nicht viel besagen. Um so besser, keine Aussage schiebt sich anmaßend-indiskret vor oder über das, was das Buch selber zu sagen hat, was du ihm abpressen mußt, sei es nun viel oder wenig. Freilich, auch dieses Herumgehen um das Buch, dieses Drumherumlesen vor dem Drinlesen gehört mit zur Freude am neuen Buch, doch wie alle Vorfreuden hat es eine bestimmte Optimaldauer, wenn es zur dauerhafteren Freude am Akt als solchen führen soll, das heißt am Lesen des Buches.
So bist du nun endlich bereit, dich über die ersten Zeilen der ersten Seite herzumachen. Gleich wirst du den unverwechselbaren Ton dieses Autors wiedererkennen. Nein. Nein, du erkennst ihn nicht wieder. Aber wer sagt denn auch, wenn man's recht bedenkt, daß dieser Autor einen unverwechselbaren Ton hätte? Im Gegenteil, man weiß doch, daß er sich von Buch zu Buch sehr verändert. Und gerade an diesen Veränderungen erkennt man ihn. Hier allerdings sieht es nun aus, als hätte dies wirklich gar nichts mit dem zu tun, was er sonst so geschrieben hat, jedenfalls soweit du dich erinnern kannst. Eine
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