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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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nicht zur Ruhe kommen werde, bevor ich sie nicht gefunden habe und weiß, wie sie endet.«
    »Der Kalif Harun al Raschid«, beginnt die Geschichte, die er nun angesichts deiner Neugier zu erzählen anhebt, »wird eines nachts von Schlaflosigkeit geplagt. Er verkleidet sich als Kaufmann und geht hinaus auf die Straßen Bagdads. Eine Barke bringt ihn über den Tigris zum Tor eines Gartens. Am Rand eines Beckens sitzt eine Frau, schön wie der Mond, und singt zur Laute. Eine Sklavin führt Harun in den Palast und hüllt ihn in einen safranfarbenen Mantel. Die Frau, die im Garten sang, hat auf einem silbernen Thron Platz genommen. Auf Kissen rings um den Thron sitzen sieben Männer in safranfarbenen Mänteln. >Nur du fehltest noch<, sagt die Frau, >du hast dich verspätet<, und lädt ihn ein, sich auf ein Kissen an ihrer Seite zu setzen. >Edle Herren, ihr habt geschworen, mir blind zu gehorchen; nun ist die Stunde gekommen, euch auf die Probe zu stellen<, sagt sie und nimmt sich eine Perlenkette vom Hals. >Diese Kette hat sieben weiße Perlen und eine schwarze. Ich zerreiße sie nun und lasse die Perlen in einen Onyxkelch fallen. Wen das Los trifft, die schwarze Perle zu ziehen, der muß den Kalifen Harun al Raschid töten und mir seinen Kopf bringen. Zum Lohn dafür biete ich ihm mich selbst. Weigert er sich jedoch, den Kalifen zu töten, so werden die sieben anderen ihn töten und die Ziehung der schwarzen Perle wiederholen.< Schaudernd öffnet Harun al Raschid die Hand, erblickt die schwarze Perle, und wendet sich an die Frau: >Ich werde deinen und des Schicksals Befehlen gehorchen, doch erzähle mir erst: Mit welcher Kränkung hat der Kalif deinen Haß erregt?< fragt er, begierig auf die Erzählung.«
    Auch dieses Relikt einer fernen Kindheitslektüre müßte in deiner Liste der abgebrochenen Bücher stehen. Aber wie heißt die Geschichte?
    »Wenn sie einen Titel hatte, ist mir auch der entfallen. Geben Sie ihr doch einen!«
    Dir scheint, daß die Worte, mit denen sie abbricht, den Geist von Tausendundeiner Nacht gut ausdrücken. Du schreibst also Fragt er, begierig auf die Erzählung in die Liste der Titel, nach denen du vergeblich in der Bibliothek gefragt hast.
    »Darf ich mal sehen?« sagt der sechste Leser, greift nach der Titelliste, nimmt sich die Brille zum Weitsehen ab, steckt sie ins Etui, öffnet ein anderes Etui, setzt sich die Brille zum Nahsehen auf und liest vor:
    »Wenn ein Reisender in einer Winternacht vor dem Weichbild von Malbork, über den Steilhang gebeugt ohne Furcht vor Schwindel und Wind, schaut in die Tiefe, wo sich das Dunkel verdichtet in einem Netz von Linien, die sich verknoten, in einem Netz von Linien, die sich überschneiden auf dem mondbeschienenen Blätterteppich rings um eine leere Grube: Welche Geschichte erwartet dort unten ihr Ende?< fragt er, begierig auf die Erzählung.«
    Er schiebt sich die Brille auf die Stirn. »Ja, ich würde schwören«, sagt er, »einen Roman, der so anfängt, habe ich schon mal gelesen. .. Sie haben nur diesen Anfang und möchten gern die Fortsetzung finden, nicht wahr? Das Dumme ist nur, daß sie einst alle so anfingen, die Romane. Jemand ging durch eine einsame Straße und sah etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte, etwas, das ein Geheimnis zu bergen schien oder eine Vorhersage; er bat um eine Erklärung, und man erzählte ihm eine lange Geschichte. «
    »Nein, hören Sie, das ist ein Mißverständnis«, versuchst du ihm klarzumachen, »dies ist kein Text. dies sind nur die Titel. .. der Reisende ... «
    »Ach, der Reisende erschien nur auf den ersten Seiten, dann war von ihm nicht mehr die Rede, seine Aufgabe war erfüllt. Der Roman enthielt eine andere Geschichte. «
    »Aber nicht von jener Geschichte möchte ich wissen, wie sie endet. «
    Der siebente Leser unterbricht dich: »Glauben Sie etwa, jede Geschichte müßte einen Anfang und ein Ende haben? In alten Zeiten konnten Erzählungen nur auf zwei Arten enden: Nachdem Held und Heldin alle Prüfungen überstanden hatten, heirateten sie oder starben. Der letzte Sinn, auf den alle Erzählungen verweisen, hat zwei Gesichter: Fortgang des Lebens, Unausweichlichkeit des Todes.«
    Du hältst einen Augenblick inne, um über diese Worte nachzudenken. Dann, blitzschnell, entscheidest du dich: Du willst Ludmilla heiraten.

XII
    Leser und Leserin, nun seid ihr Mann und Frau. Ein großes Ehebett empfängt eure parallelen Lektüren.
    Ludmilla klappt ihr Buch zu, macht ihr Licht aus, legt ihren Kopf auf das

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