Wenn ich dich gefunden habe
doch gar nicht, was ein Monatsgedächtnis ist.«
»Du hast mir doch gerade erklärt, nicht?«
»Ja, aber … Ach, vergiss es.«
»Da kommän Dara und Angel und … ist das Mrs. Flood?«
Tintin und Anya steigen aus Tintins Wagen, der weniger gekostet hat als Anyas Schuhe, obwohl Letztere aus einem Secondhandladen in Killiney stammen.
Ja, es ist Kathleen. Sie ist schöner als ich sie in Erinnerung hatte. Und sie wirkt jünger als ich erwartet hatte, was an ihrem Lächeln liegen könnte. Ein Lächeln hat oft diesen Effekt. Sie wird flankiert von ihren Töchtern. Angel und Dara. Zwei weitere Frauen klettern aus dem Auto. Eine hat fliederfarbenes Haar und fliederfarbene Fingernägel, und sie trägt ein fliederfarbenes Twinset und fliederfarbene Pumps. Tintin hat recht, was die Stöckelschuhe angeht – die Frauen versinken damit im Kies. Kathleen und ihre Töchter strecken die Arme nach der fliederfarbenen Gestalt aus, doch sie wehrt ab. »Ich schaff das schon.« Also wenden sich die drei zögernd ab und zwingen sich, in die andere Richtung zu blicken. Es ist Miss Pettigrew, da bin ich fast sicher. Sie holt einen schneeweißen Pudel vom Rücksitz, schließt die Autotür, atmet einmal tief durch und macht mit dem Pudel auf den Armen ein, zwei unsichere Schritte, als hätte sie gerade das Gehen gelernt.
Die andere Frau umklammert mit beiden Händen den Türrahmen, um sich mühsam aus dem Wagen zu stemmen. Es dauert eine Weile, bis sie es geschafft hat. Und dann steht sie da, so breit wie hoch, und bringt ihre aus mehreren schwarzen Schichten bestehende Kleidung in Ordnung. Ihre dunklen Haare sind zerzaust. Meine Mutter hätte diese Frisur ein Vogelnest genannt. Erst als ich das goldene Medaillon in ihrem tiefen Busenspalt erspähe, das in der Sonne glänzt, wird mir klar, wen ich vor mir habe. Ich sehe zu Kathleen, die immer noch lächelt. Sie ergreift Isabelles Hand und drückt sie. »Ça va?« Isabelle lächelt ebenfalls
und nickt. »Ça va , Kathleen«, sagt sie, und die beiden umarmen sich. Wie Schwestern. Wie zwei Menschen, die sich seit Jahren, Jahrzehnten kennen. Aber das kann unmöglich sein. Oder?
Angel wirkt nach wie vor blass, aber es ist keine ungesunde Blässe. Sie befindet sich sichtlich auf dem Weg der Besserung. Die Transplantation ist jetzt einen Monat her, und sie war erfolgreich. Angel geht schon wieder arbeiten, und nächsten Monat fährt sie zum Hillwalking Festival in Donegal. Und im Sommer nach Peking. Sie hat sich ein Lehrbuch gekauft und kann sich in stockendem Mandarin bereits nach dem Weg zur Chinesischen Mauer erkundigen, obwohl Dara sie darauf hingewiesen hat, dass die Chinesische Mauer vom Mond aus zu sehen ist, weshalb es vermutlich nicht nötig sein wird, nach dem Weg zu fragen. Wie dem auch sei, sie bereitet sich vor.
Angel hält eine Hand. Eine Männerhand. Der Mann könnte Feuerwehrmann sein. Er wäre jedenfalls groß und breitschultrig genug dafür. Und er hat die sympathischen, entschlossenen Züge eines Feuerwehrmanns. Er beugt den Kopf und flüstert ihr etwas ins Ohr. Sie sieht ihn an und lächelt, und er küsst sie. Ganz sanft und behutsam.
»Oh, Joe, sieh mal, ist das nicht Sissy Clarke Ha Ha Ha?«, fragt Angel und zeigt auf einen weißen Lieferwagen, dem soeben eine weitere junge Frau entsteigt, die von ihrer eigenen Mutter ein »Mordstrumm Weib« genannt wird. Ihre Zehennägel sind kornblumenblau, genau wie ihre Sandalen, und ihr Augen-Make-up dürfte so manchem eine Spur zu dramatisch für einen Friedhof erscheinen.
»Die Kolumnistin? Ja, das könnte sie sein. Ich kenne sie aus dem Fernsehen. Sie tritt doch manchmal bei The View auf, nicht?«, sagt Joe, doch sein Blick kehrt gleich wieder zu Angel zurück.
All diese Leute haben sich hier auf dem Friedhof von Bailieborough, County Cavan versammelt. Ganz schön viele eigentlich. Keiner von ihnen weint. Im Gegenteil – sie sind erstaunlich fröhlich. Es herrscht eine fast schon ausgelassene Stimmung, was teils wohl auch am Wetter liegt, das im Laufe des vergangenen Monats zusehends sommerlicher wurde.
Ich konzentriere mich auf Dara Flood, die auf ein Grab zugeht und sich dabei umsieht. Sie trägt einen roten Rock, der ihr bis knapp unters Knie reicht. An ihrer Wade klebt ein Nikotinpflaster. Seltsam, sie wirkt gar nicht wie eine Raucherin. Sie beißt sich auf die Unterlippe, und ihre dunkelblauen Augen, die eher lang als groß sind, suchen die Umgebung ab. Wenn sich ihre besorgte Miene aufhellt, wie jetzt, dann
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