Wenn nicht jetzt, wann dann?
Ob das nun das Weibchen war, das das Nest auspolsterte? Ob sie schon Eier gelegt hatte? Leider konnte man keinen Blick in das kugelige, verschlossene Nest werfen, das die kleinen Baumeister zwischen ihrem struppigen Lavendel, der im letzten Winter erfroren war, in der Ecke des Fensterbretts errichtet hatten.
Als es klingelte, humpelte sie zur Tür, um den Drücker zu betätigen und Natalie hereinzulassen. Sie ließ die Wohnungstür einen Spalt offen stehen und trat wieder vorsichtig ans Küchenfenster. Der Zaunkönig saß immer noch schimpfend auf dem Balkongeländer, und Liz dachte, dass sie versuchen würde, ihn an sich zu gewöhnen und einfach das Fenster eine Weile offen stehen zu lassen.
»Ich wollte mal sehen, wie es meinem liebsten Flüchtling geht. Warum bist du denn weggelaufen und hast dich gar nicht gemeldet?«, fragte eine vertraute Stimme, die eindeutig nicht Natalies war.
Erschrocken fuhr Liz herum.
»Wenn ich mich recht erinnere, bin ich nicht weggelaufen, sondern wurde ganz ordnungsgemäß entlassen«, antwortete Liz kühl.
»Aber hast du denn meinen Brief nicht gelesen?«
»Nein«, sagte Liz. »Habe ich nicht.«
Simon grinste erleichtert.
»Ach deshalb. Ich dachte schon wer weiß was, als ich gestern den ganzen Abend auf den Telefonhörer gestarrt habe, mit meinem Carepaket für dich auf dem Schoß. Aber dann habe ich gedacht, du bist vielleicht einfach müde gewesen?«
Da Liz immer noch nicht lächelte, fing er noch einmal an zu erklären, dass er dringend und unerwartet weggehen musste und ihr deshalb einen Brief ans Bett gelegt hatte, in dem stand, wie sie ihn immer erreichen konnte.
»Ich hab mir Sorgen gemacht«, sagte er und kam auf sie zu.
»Mir kommen die Tränen.«
Liz drehte sich zum Fenster, weil sie seinen Anblick kaum ertragen konnte. So ein hundsgemeiner Lügner. Da wagte er es, hier in ihrer Küche zu stehen und das unschuldige Lämmchen zu geben.
»Liz, was ist denn los, warum – was ist denn passiert? Ich hab dir geschrieben, ich will mich doch um dich kümmern …«
Simon sah sie verzweifelt an.
Der kleine Zaunkönig stieß immer noch panische Alarmrufe aus, und plötzlich hatte Liz das Gefühl, seine Sprache sehr gut zu verstehen.
»Und was sagt deine Frau dazu?«, entfuhr es ihr. »Und deine Tochter? Finden die das richtig, dass du dich um eine andere Frau kümmern willst? Wo deine Frau doch anscheinend schon der Meinung ist, dass du dich nicht genug um deine eigene Tochter kümmerst.«
Simon schluckte.
»Tja«, sagte Liz. »Wenn Patienten plötzlich Krücken haben, dann bekommen sie auch Dinge mit, die außerhalb des Krankenzimmers passieren.«
»Du warst auf dem Parkplatz.«
Er sah sie fragend an, und sie nickte.
»Und jetzt sag bloß nicht, dass es alles ganz anders ist, als ich denke … Ich war vielleicht naiv, aber ich bin nicht blöd.«
»Liz, es ist anders.«
Sie musste lachen. Es war unglaublich. Jo hatte damals auch diesen albernen Satz gesagt, es sei alles ganz anders, als sie denke. Dabei war es ganz genau so gewesen, wie sie gedacht hatte. Genau so.
»Weißt du, ich fände es gut, wenn du dich nicht auch noch lächerlich machst, und mich nicht lächerlich machst, indem du so einen Unsinn redest. Wenn du mich schon die ganze Zeit angelogen hast, dann habe wenigstens jetzt den Respekt, mich mit so einem Quatsch zu verschonen und zu gehen.«
Simon holte tief Luft, und dann sagte er sehr ruhig und sehr langsam einen Satz nach dem anderen.
»Ich gehe nicht. Ich rede keinen Quatsch. Ich respektiere dich. Ich habe eine Tochter. Ich bin geschieden. Ich liebe meine Tochter und hätte sie am liebsten immer bei mir. Aber das will meine Exfrau nicht. Ich habe meiner Tochter noch nichts von dir und dir noch nichts von meiner Tochter erzählt, weil wir von mir bisher überhaupt noch nicht gesprochen haben. Ich habe dir nichts mit Absicht verschwiegen. Es war alles zu viel auf einmal. Ich wünsche mir, dass wir zusammen sein können und uns kennenlernen. Ich wünsche mir, dass du Leonie kennenlernst. Ich möchte mich um dich kümmern. Und jetzt schließen wir mal das Fenster, damit dieser arme Zaunkönig zur Ruhe kommt.«
Damit ging Simon an Liz vorbei und schloss sehr behutsam den offenen Fensterflügel.
»Der ist genau wie du«, sagte Simon, als er sich wieder zu ihr umdrehte.
»Was an diesem Vogel ist genau wie ich? Und woher weißt du überhaupt, dass das ein Zaunkönig ist?«
»Ich kenn mich aus mit Vögeln.«
»Das glaub ich dir aufs
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