Wenn nicht jetzt, wann dann?
auch dabei geholfen. Für eine Weile war das vielleicht sogar richtig. Richtig zum Weiterleben. Aber wir haben den Absprung nicht geschafft. Die Zeiten ändern sich. Was vor zwanzig Jahren richtig war, ist heute nicht mehr richtig. Heute ist es einfach nicht mehr richtig, dass du mir hilfst, die Leere in meinem Leben zu füllen, die durch den Tod deiner Mutter entstanden ist. Das ist das Einzige, was heute richtig ist, dass ich endlich zulasse, dass du dein eigenes Leben lebst. Und dich um Verzeihung bitte, dass ich das nicht schon viel früher getan habe. Viel früher. Buch dein Ticket, mein Mädchen. Und hau ab. Entdecke die Welt.«
Nina sprang auf und umarmte ihren Vater.
»Und komm wieder und erzähl mir davon. Machst du das?«
»Das mach ich. Das mache ich.«
Nina vergrub ihr Gesicht am Hals ihres Vaters und eine Weile hielten sie sich einfach nur fest.
»Und du bist nicht traurig?«
»Kaum«, grinste ihr Vater mit verdächtig feucht glänzenden Augen. »Und wenn, dann geht es dich überhaupt nichts an.«
»Und auch nicht böse?«
»Soll ich dir sagen, was ich bin? Neidisch bin ich. Ich will von überall her eine Postkarte. Keine E-Mail. Eine Postkarte. Mit fremden Briefmarken, mit einem Luftpost-Aufkleber und fünf Wochen Verspätung. Versprichst du mir das?«
»Versprochen.«
»Und versprichst du mir, dass du immer versuchen wirst, glücklich zu sein?«
»Versprochen.«
»Und sag mal, kann ich Fabian als Goldschmied behalten?«
»Das musst du sogar. Er ist der Beste.«
»Und was ist mit euch beiden? Irgendwann kommst du wieder. Und dann?«
»Dann sind wir Freunde, glaub ich. Ich glaube, wir sind als Freunde viel besser, als wir das als Ehepaar gewesen wären. Gib ihm Anteile, wie du es vorhattest. Wir kommen damit klar. Ich liebe seine Entwürfe, und er wird es lieben, wie ich sie an die Leute bringe, wenn ich zurück bin.«
Hannes wusste nicht, wohin mit sich. Seit Annemie gestern gegangen war, suchte er einen Platz, an dem er wieder seine Ruhe finden könnte, aber er fand sie nicht. Er ging zur Bank im Rosengarten. Und dachte an Annemie. Er ging zu seiner Abendkastanie, um den Amseln zuzuhören, und dachte an Annemie. Er stand in seinem blauen Hortensienhaus und musste es verlassen, weil es nicht gut zu ertragen war, hier an Annemie zu denken. Er schnitt Blumen für sie und warf sie auf den Kompost. Dann ging er erneut zum Kompost, sammelte die Blumen wieder ein und stellte sie ins Wasser. Er trat vor seinen kleinen Monet, sah in die Lichtpunkte des Gartens und fragte ihn, wie er das hinbekommen hatte, sich so auf den Garten zu konzentrieren und sich durch Menschen nie ablenken zu lassen.
Seine Ruhe war dahin. Er hatte das Gefühl, dass er Jahre gebraucht hatte, um Evelyn zu vergessen, und noch einmal Jahre, um ihren Tod und seinen Bruder und seine Familie zu vergessen. Und dann waren diese blauen Augen in seinem Leben erschienen und hatten alles wieder aufgewühlt. Hatten ihm gezeigt, wie einsam und alt er geworden war und wie schön es sein kann, Augenblicke mit einem anderen Menschen zu teilen. Blaue Augenblicke. Bunte Augenblicke. Das Leben war schön gewesen, seit sie aufgetaucht war. Er hatte sich gefreut, wenn sie kam. Und jetzt hatte er sie für immer vertrieben und es würde nun erneut lange, lange dauern, bis er sie so weit vergessen hatte, dass er wieder Ruhe in seinem Garten würde finden können.
Er stand, die Hände in den Hosentaschen, vor seinen Gewächshäusern und sah in das schimmernde Blau, als er ein Rascheln hörte und sich umdrehte. Einen irrwitzigen Bruchteil einer Sekunde lang glaubte er, dass sie zurückgekommen war, doch noch bevor er sich komplett umgedreht hatte, wusste er, dass das unmöglich der Fall sein konnte. Nach allem, was er gesagt hatte, würde sie niemals zurückkommen. Wer gekommen war und nun vor ihm stand, war sein Bruder Claus.
Sie sahen sich eine ganze Weile nur an, neugierig musterten sie einander, und schließlich brummte Hannes: »Du bist alt geworden, du bist ein alter Mann, kleiner Bruder!«
»Ebenso, ebenso. Vielen Dank«, gab Claus zurück, trat einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm seine Hand entgegen.
»Und meinst du nicht, dass zwei alte Männer wie wir durchaus wieder miteinander reden könnten?«
»Hat sie dich geschickt?« Hannes sah ihn skeptisch an.
»Wer? Nina?«
»Frau Hummel. Die blauäugige Frau Hummel. Hat sie dich hergeschickt?«
»Nein. Sie weiß gar nicht, dass ich hier bin. Nina hat die Hochzeit abgesagt.« Er
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