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Wer anders liebt (German Edition)

Wer anders liebt (German Edition)

Titel: Wer anders liebt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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»wie ist das möglich?«
    »Das liegt an der Straße«, sagte sie. »Die ist so schlecht, da können sie nicht schnell fahren.«
    Danach sagten sie nichts mehr. In ihren Gedanken waren sie bei der Baumgruppe, bei dem kleinen Jungen, und Kristine war plötzlich froh, dass er so da gelegen hatte. Mit dem Gesicht im Moos. Sie hatte seine Augen nicht gesehen. Sie starrte die Straße an, endlich hörte sie ein Auto. Reinhardt drückte seine Zigarette aus und richtete sich auf. Er schien sich für den großen Auftritt seines Lebens bereit zu machen.
    5
     
    Ganz vorn in der ernsten Gruppe ging ein hochgewachsener, grauhaariger Mann.
    Er kam mit einem eigenen, federnden Schritt auf sie zu, zugleich arbeiteten seine Augen, er musterte Reinhardt und Kristine, er sah sich die Umgebung an. Hinter ihm kam ein jüngerer Mann mit einem beeindruckenden blonden Lockenkopf.
    »Das hat aber gedauert«, sagte Reinhardt, »ich habe angerufen, ich heiße Ris, Reinhardt Ris. Er liegt hier hinten im Wald, bei einer Baumgruppe. Es sind nur ein paar Minuten zu gehen.«
    Er drehte sich um und zeigte auf die Bäume. »Wie gesagt, es ist ein kleiner Junge. Er liegt auf dem Bauch und ist fast unbekleidet. Für uns war das der totale Schock. Wir kommen jeden Sonntag her, seit vielen Jahren schon, aber wir hätten doch nie damit gerechnet, so etwas zu erleben, und wir wissen ja auch nicht, was geschehen ist, aber ich muss zugeben, dass ich mit dem Schlimmsten rechne, und Ihnen geht das sicher auch nicht anders. Er ist noch nicht alt, sechs oder sieben. Oder was glaubst du, Kristine, kann er schon sieben sein?«
    Reinhardts Wortschwall versiegte. Der Grauhaarige sah ihn aus schmalen Augen an und drückte ihm die Hand. Er stellte sich als Konrad Sejer vor. Während er Reinhardt begrüßte, schaute er zu Kristine hinüber und sein Gesicht wurde weniger streng. Sie war froh darüber, dass er jetzt die Führung übernahm. Ein Gefühl der Verlegenheit färbte ihre Wangen rot, sie begriff nicht, warum, es hing mit seinen Augen zusammen, seiner Aufmerksamkeit.
    »Sie haben ihn gemeinsam gefunden?«, fragte er.
    »Reinhardt hat ihn zuerst gesehen«, sagte Kristine.
    »Ist es schwer für Sie?«
    »Ja«, sagte sie ehrlich. »Sehr schwer.«
    Er nickte.
    »Gut, dass Sie zu zweit sind«, sagte er, »es ist leichter, wenn man so etwas mit jemandem teilen kann.«
    Wir haben schon lange nichts mehr geteilt, dachte sie missmutig.
    »Wir haben einen Mann gesehen«, schaltete Reinhardt sich ein. »Einen Mann, der weglief, er hatte es eilig. Wir sind ihm hier an der Schranke begegnet, er ist in einem Auto verschwunden. Ich kann Ihnen sagen, der hatte ein Wahnsinnstempo drauf.«
    Sejers Augenbrauen hoben sich um einen Millimeter, deutlichere Mimik war bei ihm selten. Im Gesicht des jüngeren Beamten war ein leises Lächeln zu erahnen, als er Reinhardts Geltungsdrang registrierte.
    »Wir haben allerlei Details beobachtet«, sagte Reinhardt. »Wir waren gerade erst gekommen, wir sind ganz dicht an ihm vorbeigegangen.«
    Sejer nickte ruhig.
    Kristine setzte sich in Bewegung. Sie wollte das nicht und ihr graute. Der lockige Beamte trat neben sie und hielt ihr die Hand hin, er hieß Jacob Skarre. Er erinnerte mit seinen großen knallblauen Augen und den Locken, um die ihn jedes Mädchen hätte beneiden können, an einen übergroßen Teenager. Hinter ihm kam eine Gruppe von Technikern, sie trugen verschiedene Ausrüstungsgegenstände, die sie am Tatort brauchen würden. Genauer gesagt, am Fundort, dachte Kristine. Sie wusste nicht warum, aber sie war sicher, dass der Junge an einem anderen Ort ermordet und dann vom Täter hergebracht worden war. Sie dachte an den Mann bei der Schranke und erschauderte, als sie sich an seinen verstörten Blick erinnerte.
    Sie setzte sich auf den Holzstapel, während die Techniker sich an ihre mühselige Arbeit machten. Sie sah ihnen zu, wie sie langsam ihre Plätze einnahmen. Endlich erfüllte sie eine Art Ruhe, denn jeder hier hatte seine Aufgabe, sie sah keine Anzeichen von Entsetzen, sie sah nur Ernst. Aber kaum hatte sie das gedacht, da überkam sie die Verzweiflung, denn der Junge hatte Eltern, und die wussten von nichts. Vielleicht lachten sie gerade in diesem Moment über einen Scherz. Sie konnte sie deutlich in einem Wohnzimmer vor sich sehen, vielleicht schien die Sonne durch das Fenster herein. Dieser Gedanke raubte ihr den Atem. Dann wurde sie von Reinhardts Stimme unterbrochen, die die Stille durchbrach, sie klang laut und

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