Wer liebt mich und wenn nicht warum
vielleicht doch noch zu überleben.
Dass ich hier wegkommen würde, schloss ich aus. Mein Handy lag in meinem Rucksack irgendwo im Wald. Niemand würde mich vermissen und nach mir suchen, denn alle würden nur denken: Jemawawi. Eigentlich war das ja sogar gut, denn jeder, der mich hier fand, würde in dieselbe Yksi-Falle tappen wie ich.
Ich richtete mich also auf eine lange Nacht ein und hoffte, dass Yksi mit dem Kalb im Morgengrauen zur Herde ziehen würde und ich irgendwie bis zum Haus kriechen konnte.
Es dämmerte. Es wurde dunkel. Ich hörte, wie Wellen ans Seeufer schwappten, manchmal quakte eine Ente. Im Wald schrie ein Tier, vielleicht ein Marder oder ein Igel. Aber von meinem Nächten unterm Boot kannte ich inzwischen alle Geräusche der Natur und hatte keine Angst. Mir war nur ein bisschen kalt und mein Fuß tat weh.
Die Angst kam erst zurück, als Yksi plötzlich unruhig wurde.Ich hörte, wie sie sich erhob, scharrte und schnaubte. Oh nein, dachte ich, bitte keinen Stress in der Dunkelheit. Warum war Yksi plötzlich so unruhig, hatte sie Hunger? Musste sie mal? Oder witterte sie Gefahr? Was, wenn sie sich jetzt an mich heranpirschte und mein Gehege rammte? Sofort sang ich wieder unser Lied. »Herzilein, du musst nit traurig sein.«
Ich sang und sang. Nach einer Weile konnte ich Herzilein nicht mehr ertragen und weil Yksi ganz still war, versuchte ich es zur Abwechslung mal mit »Im Frühtau zu Berge«.
Ich bemerkte bei Yksi keine Veränderung und erweiterte mein Repertoire. Bei »Wir lagen vor Madagaskar« kam sie mir nervöser vor, also suchte ich schnell nach einer einschläfernden Melodie.
»Oh, Tannenbaum« wirkte Wunder! Ich hörte einen Plumps! Juhuu, Yksi hatte sich wieder hingelegt.
Weihnachtslieder also! Ich sang alle, die ich kannte. »Stille Nacht«, »Oh du Fröhliche«, »Morgen kommt der Weihnachtsmann«.
Und was hörte ich? Mampf, mampf, mampf, mampf, Yksi käute wieder. Na, wenn das kein Zeichen für Entspannung war!
In dieser glücklichen Stimmung sang ich als letzte Zugabe für Yksi und ihr Kalb mein ganz spezielles Weihnachtslied. »Dschungelbert«.
Ich liebe dieses Lied wie kein anderes, denn es hat eine besondere Geschichte: Als ich in der ersten Klasse war, sprachen wir in der Weihnachtszeit einst im Unterricht über das Christkind. Da fragte unsere Lehrerin: »Wer von euch weiß denn auch etwas über den Weihnachtsmann?«
Tom schnippte aufgeregt mit dem Finger und als er drankam,sagte er, der Weihnachtsmann habe einen roten Mantel an und sei der beste Freund vom Dschungelbert. Und der sei übrigens grün.
Die Lehrerin stutzte. Von diesem Dschungelbert hatte sie noch nie was gehört. Da stand Klein-Tom auf und sang als Beweis ein Lied. »Dschungelbert, Dschungelbert, klingt’s durch Eis und Schnee«, trällerte er. Im Gegensatz zu mir konnte Tom schon immer gut singen. »Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt dort von der Höh’.«
Oh, wie wurde Tom wütend, als die Lehrerin lachte und ihm erklärte, das Lied heiße nicht Dschungelbert, sondern »Jingle Bells« und der Weihnachtsmann habe keinen grünen Freund, sondern nur Rentiere. Tom wollte das einfach nicht glauben. Und weil ich ihn in dieser Situation nicht allein lassen wollte, erklärte ich der erstaunten Lehrerin damals, es gebe sehr wohl einen Dschungelbert, ich wüsste es genau, denn ich hätte es im Lexikon gelesen. Da war sie noch verwunderter, denn ich konnte noch gar nicht lesen.
Ich habe diese kleine Episode Tom gegenüber schon lange nicht mehr erwähnt, weil sie ihm vermutlich peinlich ist, aber seitdem singe ich an Heiligabend unter der Dusche und voller Inbrunst immer das Lied von Dschungelbert. Und gestern im dunklen Wald sang ich es für Yksi.
Sie mochte es. Als ich aufhörte, lag sie ganz still. Man hörte keinen Laut, sie käute nicht einmal mehr wieder. Toll, dachte ich. Was für ein magischer Song!
Plötzlich. Hörte. Ich. Toms Stimme.
Nur ein paar Zentimeter von mir entfernt. Und, viel schlimmer, nur ein paar Meter von Yksi entfernt.
»Ich hatte gehofft, du hättest Dschungelbert längst vergessen«, sagte Tom und lachte.
War der wahnsinnig?
Und dann wurde mir klar: Es war dunkel. Tom konnte Yksi nicht sehen. Er war in Lebensgefahr und wusste es nicht mal.
Was folgte, war furchtbar. Ein Schnauben! Ein Beben!! Ein stampfendes Geräusch!!! Yksi war aufgesprungen.
»Tom! ZU MIR! SCHNELL!!! Über den Zaun! Beeil dich, sonst bist du TOOOOOOOOT! «, schrie ich in schriller Hysterie.
Zum
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