Wer mit Hunden schläft - Roman
aufs Haar glich. Die Rosemarie lief sofort hin, hatte sich vom festen Griff der Mutter losgerissen, durch den die Haut über ihren Knöcheln ganz weiß geworden war. Um miteinander sprechen zu können, waren in der Glaswand in Kopfhöhe eines sitzenden Erwachsenen kleine Löcher gebohrt. Stehend konnte die Rosemarie die Sprechlöcher mit ausgestreckten Armen erreichen. Der Durchmesser war so groß, dass sie ihren Zeigefinger bis zum Gelenk durchstecken konnte. Auf der anderen Seite der Wand hat der Vater mit seinen Schneidezähnen in die Zeigefingerspitze der Rosemarie hineingebissen. Hat seine Augen aufgerissen und sich die Haare zerwühlt. Sich mit den Füßen auf seinen Sessel gehockt, unter seinen Achseln gekratzt und Geräusche gemacht wie ein Orang-Utan. Die Rosemarie hat gelacht und der blecherne Geschmack im Mund, die aufgewetzten Schamlippen, die gelbe Regenpelerine und die totgefahrenen Regenwürmer sind auf einmal vergessen gewesen. Die Mutter hat den Finger der Rosemarie aus dem Sprechloch herausgezogen, sich auf den Sessel gesetzt und sie auf den Schoß genommen. Die Kleine saß im Kinderwagen daneben und schaute herum. Der Vater legte ein Bein über das andere, lehnte sich zurück, streckte sich und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. Ja, Grüß Gott, sind wir auch wieder einmal da, hat er gesagt. Das waren die Besuchstage. Jedes Mal nach einem Besuch hat die Rosemarie diese Geschichte oder eine Variation dieser Geschichte vorm Calafati sitzend dem Norbert erzählt. Hat vom Vater geschwärmt, der wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge, die in Wahrheit ein tragischer Unfall gewesen war, wie sie gesagt hat, eine fünfjährige Haftstrafe abzusitzen hatte. Bis die Besuchstage aufhörten und bis zu dem Abend, an dem die Rosemarie die Hand vom Norbert in ihr glitschiges Loch steckte und sagte: Zur Erinnerung. Danach war die Rosemarie plötzlich verschwunden. Die Dienstwohnung für Küchenbedienstete des Arnautovič Kinderheims, in der die Rosemarie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester gewohnt hatte, bezog ein ausgefressener ehemaliger Militärkoch aus Polen, der schwer soff und keine Tochter beziehungsweise überhaupt keine Kinder hatte, weil er, wie er immer gesagt hat, Kinder im Generellen nicht ausstehen konnte. DAS ESSEN IST IMMER NUR SO GUT WIE DER KOCH BLAD IST , hat die Mutter immer gesagt. Das hat zwar tatsächlich gestimmt, konnte den Norbert aber auch nicht über die durchgehende Finsternis, die mit dem Verschwinden der Rosemarie eingekehrt war, hinwegtrösten.
III
»Du wirst lachen, Kreisky, wenn dein Leben besser sein soll, als es momentan ist, dann musst du deine Vergangenheit vergessen und alle Menschen, die damit zu tun gehabt haben, umbringen in deinem Kopf.« Bei dem Wort umbringen streckt der Herr Norbert den Zeigefinger seiner rechten Hand aus und wackelt damit herum, wie man es tut, wenn man einem kleinen Kind beim Ausschimpfen irgendwelche unangenehmen Konsequenzen androht. »Alles umbringen, Kreisky! Weil wenn du es nicht schaffst, sie umzubringen, musst du dich irgendwann selbst umbringen, wirklich wahr! Nicht dass das was Schlechtes wäre, ganz im Gegenteil! Es ist ja das größte Missverständnis, dass die Leute glauben, der Selbstmord ist eine Verzweiflungstat eines Lebensmüden, wie sie immer sagen, Kreisky. Ein mutmaßliches tragisches Unglück!«, sagt der Herr Norbert.
Als der Herr Norbert das Wort lebensmüde sagt, denkt er sofort wieder an den Leitenbauer, der die Kaninchen, die am nächsten Tag geschlachtet werden sollten, scherzhaft als lebensmüde bezeichnet hat. Einmal kannst noch deine Lebensmüden füttern, hat er zum Norbert gesagt, und ist gleich wieder in sein Lachen ausgebrochen, weil er seinen eigenen Spruch so witzig gefunden hat. Natürlich ist das für den Norbert nicht witzig, sondern katastrophal gewesen, weil nach dem Spruch des Leitenbauer am nächsten Tag die Kaninchen abgestochen, gehäutet und ausgenommen mit eröffneten Körpern zum Ausbluten auf der Wäscheleine der Mutter hinter der Keusche aufgehängt wurden. Zum Auffangen des Blutes wurde von der Mutter darunter das alte Blechlavoir gestellt, in dem der Norbert im Sommer immer gebadet hat. In der Nacht musste er dann das Hineinklatschen der Blutstropfen in das Blechlavoir hören. In unregelmäßigen Abständen sind sie hineingeklatscht und haben ein blechernes Nachhallen verursacht, das nur vom Geschrei und Gefauche der Katzen und Marder, die sich um das blutgefüllte Blechlavoir
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