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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Eins
    Ich muss sie loswerden, unbedingt. Ich halte es nicht länger aus, dass sie sich in mein Leben einmischt und mir die Luft zum Atmen nimmt. Ich muss sie loswerden, das ist meine einzige Chance, wieder nur ich zu sein oder endlich nur ich, so genau weiß ich das nicht, woher soll ich es auch wissen, es gab mich nie ohne sie, von Anfang an. Bis heute sitzt sie mir im Genick, und wenn es mir mal gelingt, sie ein paar Tage zu verdrängen, taucht sie in meinen Träumen auf. Sie ist im Hintergrund immer da.
    Erinnerungen haben die lästige Eigenschaft, gerade dann aufzutauchen, wenn man sie am wenigsten brauchen kann, so wie es mir letzte Woche passiert ist, mitten in einem Referat über Wildkräuter und ihre Verwendung in der Naturheilkunde früher und heute. Ich kam bis zur Gemeinen Schafgarbe, eigentlich ein Feld- und Wiesenkraut, dem man aber schon in der Antike wahre Wunderkräfte zugeschrieben hat, unter anderem bei der Wundheilung und dem Stillen von Blutungen, zum Beispiel soll der griechische Sagenheld Achilles mit Schafgarben die eiternden Wunden des Königs Telephos geheilt haben, ein Umstand, dem die Pflanze ihren botanischen Namen verdankt, Achillea millefolium .
    Davon sprach ich gerade im Seminar, da tauchte auf einmal ein Bild vor mir auf, Marie, da war sie wieder, sie saß im Wohnzimmer, und vor ihr auf dem Tisch lag neben einer ausgebreiteten weißen Serviette eines der esoterischen Bücher, die sie damals aus der Bücherei anschleppte. In der linken Hand, ihrer Herzhand, hielt sie ihre selbst gesammelten und getrockneten Schafgarbenstängel. Ich sah, wie sie die Hand hob und über die Serviette hielt, wie sie langsam die Finger löste und die Stängel auf das weiße Tuch fallen ließ. Dann verglich sie das Muster, das die Stängel bildeten, mit den Abbildungen im Buch, und wenn sie sich über die Seiten beugte, fielen ihre Haare, die damals noch so lang waren wie meine, nach vorn und verdeckten ihr Gesicht. Plötzlich klappte sie das Buch mit einem wütenden Knall zu und schrie mich an, als wäre alles meine Schuld: Ich werde kein Glück haben, nie, ich bin unter keinem guten Stern geboren.
    Ich war erschrocken, wollte etwas sagen, irgendetwas wie »Ist doch nur ein Spiel« oder »Versuch’s halt noch mal«, da rannte sie aber schon hinaus, und ich sah durch die offene Tür, wie sie ihr Fahrrad schnappte und losfuhr, und während ich das Buch und die Schafgarbenstängel hinauftrug in ihr Zimmer und auf ihren Schreibtisch legte, dachte ich nur an den Streit, den es geben würde. Wieder mal.
    Dieses Bild war schlagartig da, es war so klar und deutlich, dass ich mich fragte, wie ich eine so wichtige Szene hatte vergessen können, warum sie mir damals nicht eingefallen war, als ich gefragt wurde, ob ich mich an etwas Besonderes erinnern könne, da hätte ich es erzählen müssen. Stattdessen habe ich getan, als hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört.
    Mein Erschrecken war so unvermittelt und heftig, dass ich anfing zu stottern, und als der Professor mich anschaute und erstaunt die Augenbrauen hochzog, verstummte ich völlig, ich bekam einfach kein Wort mehr heraus, ich sah nur Marie mit den Schafgarben vor mir, und seine ungeduldige Handbewegung, mit der er mich aufforderte, endlich fortzufahren, wurde zu ihrer, mit der sie mich aufforderte, endlich den Mund zu halten.
    Ich lief rot an und rannte hinaus.
    Später habe ich mich bei dem Professor mit einem plötzlichen Unwohlsein entschuldigt, und er hat scheinbar verständnisvoll gesagt, das sei doch nicht so schlimm, so etwas könne ja mal passieren. Aber sein betont väterlicher Ton konnte mich nicht täuschen, und tatsächlich bekommt er seither immer, wenn er mich sieht, eine Falte über der Nasenwurzel, und ihm ist anzusehen, dass er denkt, da ist sie ja wieder, diese hysterische Ziege. Auch dieses peinliche Erlebnis habe ich ihr zu verdanken, und mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken, mir könnte etwas Ähnliches bei der Prüfung passieren.
    Seit diesem Ereignis taucht sie wieder häufiger auf und stört mein seelisches Gleichgewicht, das sowieso alles andere als stabil ist. Vorletzte Nacht hat sie mich geweckt, ich konnte sie zwar nicht sehen, denn ich lag auf dem Bauch und sie hockte mit gespreizten Beinen auf meinem Rücken und legte die Hände um meinen Hals, aber ich erkannte sie natürlich an ihrer Stimme und dem Geruch nach Räucherstäbchen, die sie auch nach dem Ende ihrer esoterischen Phase nicht

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