Wer nie die Wahrheit sagt
wehren.« Und dann hatte er ihr beigebracht, wie man sich seiner Haut wehrte. Die kleine zweijährige Beth hatte dabei zugesehen, ihren Teddy an einem Bein schwenkend, kreischend vor Freude.
Aber den Ernstfall hatten sie natürlich nicht üben können – wie man mit der alles überwältigenden Angst fertig wurde, die wie ein wildes Tier über einen herfiel, wenn man sah, wie jemand mit dem Messer auf einen zukam. Aber sie hatte diese Angst gemeistert, hatte die Erstarrung, das lähmende Entsetzen abgeschüttelt. Sie hatte es geschafft.
Jetzt betrat sie stolz und hoch aufgerichtet, das nur mehr leise Ziehen ihrer Wunde ignorierend, die Frühstückspension.
»Hallo«, sagte sie lächelnd der Kreuzworträtsel lösenden Mrs. Blade hinter dem Empfang.
»Sie sehen aus, als hätten Sie in der Lotterie gewonnen, Mrs. Frasier. Ach ja, fällt Ihnen vielleicht ein Wort mit fünf Buchstaben für einen monströsen Killer ein?«
»Hm, tja, damit könnte ich gemeint sein, aber leider hat Lily ja bloß vier Buchstaben. Tut mir Leid, Mrs. Blade.« Lächelnd erklomm Lily mit ihren Einkäufen die Treppe in den ersten Stock.
»Ich hab’s!«, rief ihr Mrs. Blade hinterher. »Ein Schlächter – das ist ein monströser Killer. Genau!«
»Das sind aber mehr als fünf Buchstaben, Mrs. Blade.«
»Mist, Sie haben Recht.«
Oben in ihrem Zimmer rückte Lily den kleinen viktorianischen Tisch genau in die Sonne. Sorgfältig packte sie ihre neu erworbenen Malutensilien aus und breitete sie in Griffweite aus. Sie wusste, dass sie unter einem Adrenalinschub stand, aber das war ihr egal. Sie fühlte sich einfach herrlich. Doch dann blieb sie stehen, wie vom Blitz getroffen.
Ihre Sarah-Elliott-Bilder. Sie musste sofort ins Eureka Art Museum und überprüfen, ob sie noch alle da waren, alle acht. Wie hatte sie nur an Remus denken können?
Nein, das war lächerlich. Sie konnte einfach Mr. Monk anrufen und ihn nach ihren Bildern fragen. Aber wenn sie ihm nun nicht vertrauen konnte – und bis jetzt hatte sich noch niemand hier als vertrauenswürdig erwiesen –, was dann? Er konnte sie leicht belügen.
Tennyson oder sein Vater hätten sie gestern Abend leicht noch stehlen können. Und Mr. Monk steckte möglicherweise mit ihnen unter einer Decke.
Nein, man hätte sie benachrichtigt, wenn ihre Bilder verschwunden wären. Oder vielleicht doch eher Elcott Frasier oder Tennyson? Nein, es waren ihre Bilder, aber sie war ja krank, nicht wahr? Noch ein Selbstmordversuch. Unfähig, sich mit etwas so Aufreibendem auseinander zu setzen.
Drei Minuten später war sie unterwegs.
9
Das Eureka Art Museum nahm einen ganzen Block in der West Clayton Street ein. Ein herrliches altes viktorianisches Gebäude inmitten großer alter Eichen, die in der eisigen Herbstluft rasant ihre bunten Blätter abstreiften. Wegen der Budgetkürzungen bei der Stadt lagen Wiese und angrenzende Gehsteige unter einer Decke leuchtend gelber, roter und goldener Blätter verborgen.
Lily zahlte dem Taxifahrer fünf Dollar und gab ihm noch ein ordentliches Trinkgeld, weil seine Hemdsärmel schon ganz abgetragen waren. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass ihr noch genug Geld für den Eintritt blieb. Der alte Herr am Eingang teilte ihr mit, dass der Eintritt frei sei, kleine Spenden aber großzügig entgegengenommen würden. »Großzügig?«, fragte Lily lachend. »Nicht dankend?«
»Doch, dankend auch«, antwortete er grinsend. Froh, dass nicht mehr von ihr verlangt wurde, als sein Grinsen zu erwidern, bat sie ihn, Mr. Monk Bescheid zu sagen, dass Mrs. Frasier hier sei.
Sie hatte die Bilder hier erst einmal gesehen, bei einem kurzen Besuch, nicht lange nach ihrer Heirat mit Tennyson und noch bevor der besondere Ausstellungsraum eingerichtet worden war. Damals hatte sie auch Mr. Monk, den Kurator, kennen gelernt, mit seinen wundervollen schwarzen Augen und dem hungrigen, ehrgeizigen Gesichtsausdruck, sowie seine beiden Assistenten, die Kunstgeschichte studiert hatten, aber schulterzuckend meinten, in den bedeutenden Museen gäbe es kaum Jobs, also könne man sich schon glücklich schätzen, in Eureka untergekommen zu sein. Nun, fügten sie schmunzelnd hinzu, zumindest bekäme das Museum jetzt, da die acht Sarah Elliotts hier wären, eine gewisse Klasse und Ehrbarkeit.
Es war zwar kein großes Museum, dennoch hatte man die acht Sarah Elliotts in einem extra dafür hergerichteten Raum ausgestellt. Und nicht schlecht, wie sie zugeben musste. Strahlend weiße Wände, perfekte
Weitere Kostenlose Bücher