Nach dem Sturm
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Tag 25, Jahr 0032. Nieselregen setzt ein und legt einen Schleier über die Windschutzscheibe. Colin schaltet den Scheibenwischer ein und die Straßen Portervilles verwandeln sich in ein trübes Grau, das langsam an mir vorbeizieht. Ich blicke auf meine Hand und kann immer noch nicht fassen, wie klein Emilys Hand in ihr gewirkt hat, als sie vor kurzem noch in der meinen lag. Wie ein Spielzeug. Und doch hat ihre Hand sich mit jedem Atemzug bewegt, den meine Tochter, friedlich schlafend in den Armen ihrer Mutter, getan hat.
Seit acht Tagen ist sie nun da und es ist alles gut gegangen, trotz der vielen Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen hatten und haben. Was für ein Glück! Und Rhonda geht es auch gut, obwohl die Wehen 14 Stunden dauerten und sie meine Hand die ganze Zeit so fest gedrückt hielt, dass ihre Knöchel weiß wurden und es mir vorkam, als wären meine Finger in einen Schraubstock geraten. Ich hatte Angst, weil das Krankenhaus bis unters Dach voll war und das Licht immer wieder ausfiel, und Louise, die Hebamme, sagte, sie könne die Herztöne des Ungeborenen nicht überprüfen, weil die Notstromaggregate nur Energie für das Licht liefern und nicht für den Ultraschall und was sie sonst noch an Gerätschaften brauchen.
Ich hatte furchtbare Angst und wusste, ich darf sie nicht zeigen. Bleib ruhig, Jefferson Prey, habe ich mich immer wieder ermahnt und auf die fleckigen, grünen Kacheln des Kreißsaals gestarrt, die stumpf im flackernden Neonlicht glänzten. Bleib ruhig, gib ihr Kraft! Aber Rhonda hat so furchtbar geschrien. Als würde man ihr bei lebendigem Leibe das Herz herausreißen.
Und dann das Blut. Viel Blut. Es war einfach überall! Die alte Hebamme schwitzte, ihre Arme waren bis zum Ellenbogen mit Blut verschmiert. Und Rhonda schrie so laut, dass wir alle halb taub waren. Aber es war nicht das Herz, das man ihr bei lebendigem Leibe heraus riss. Es war Emily.
Unsere, meine Emily.
Emily Prey.
Wie wunderschön sie ist! Ich finde es immer noch unbegreiflich, dass ich seit acht Tagen der Vater einer kleinen, wunderschönen Tochter bin. Und ebenso unbegreiflich ist die Tatsache, dass man einen Menschen von ganzem Herzen lieben kann, sogar sein Leben für ihn geben würde, obwohl er erst so kurz auf der Welt ist und man ihn eigentlich noch gar nicht kennt. Es ist ein Wunder, nicht mehr und nicht weniger.
Seit Emily auf der Welt ist, habe ich endgültig das Gefühl, dass alles gut werden wird. Es gibt eine Zukunft für uns. Für uns alle in Porterville, und Emily wird sie sehen und erleben, an ihr Teil haben und sie mitgestalten.
All das Blut, all die Tränen und die vielen Toten auf den Straßen werden nicht umsonst gewesen sein. Sogar meinem Vater, Martin Prey, geht es besser, seit Emily da ist. In den Tagen vor der Befreiung sah er ständig alt und abgekämpft aus, als läge Staub in den dünnen Falten um seine Augen. Er hustete und immer wieder war das Taschentuch, das er sich dabei vor dem Mund hielt, rot. Getränkt von Blut.
Ich habe ihn darauf angesprochen, ihn gedrängt, zu einem Arzt zu gehen, aber er wollte davon nichts wissen. „Was du tust, ist jetzt viel wichtiger für uns alle, Jefferson. Und die Krankenhäuser sind voller verwundeter junger Männer und Frauen. Die brauchen die Ärzte nötiger als ich.“
Er hatte nicht unrecht, und meinem Vater zu widersprechen fällt mir nach all den Jahren immer noch schwer, obwohl ich nun selber ein Vater bin und zu einem kleinen bescheidenen Teil sogar die Geschicke dieser Stadt lenke. Als ich Emily nach der Entbindung in seine schwachen Arme gelegt habe, kam dieser Glanz in seine Augen, die sonst so trüb wirken. Es wird alles wieder gut, sagten seine Augen.
Es wird alles wieder gut.
„Tut mir leid, Sir. Da vorne muss irgendetwas los sein.“
Die Stimme des Fahrers reißt mich aus meinen Gedanken und erst jetzt fällt mir auf, dass wir seit bestimmt fünf Minuten auf der gleichen Stelle der Congress Street stehen, ohne, dass eine Ampel in Sicht wäre. Wir haben einen Umweg an der Mauer entlang genommen, um dem dichten Verkehr zu entgehen, und sind dennoch steckengeblieben. Regentropfen laufen zitternd über die Frontscheibe, die Menschen vor uns sind aus ihren Fahrzeugen ausgestiegen, irgendjemand brüllt etwas, aber ich kann nicht hören, was er brüllt. Ich lege Colin kurz die Hand auf die Schulter.
„Warten sie hier, Colin. Ich gehe mir das ansehen.“
„Sir, es ist vielleicht nicht sicher. Sie sollten besser
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