Wer nie die Wahrheit sagt
Beleuchtung, auf Hochglanz polierte Eichendielen und gepolsterte Sitzbänke in der Mitte, auf denen man sitzen und die Gemälde nach Herzenslust bewundern konnte.
Lily stand zunächst einfach nur da, sich langsam drehend und jedes einzelne Bild betrachtend. Sie war vollkommen überwältigt gewesen, als der Testamentsvollstrecker ihrer Mutter sie ihr ins Büro des Direktors des Chicago Art Institute geschickt hatte, wo sie sie gespannt erwartete. Endlich hatte sie sie alle berühren, in den Händen halten können. Jedes einzelne war für sie etwas Besonderes, bei jedem hatte sie ihrer Großmutter gegenüber einmal erwähnt, dass es ihr ganz besonders gefalle; und ihre Großmutter hatte das nicht vergessen. Ihr Lieblingsbild war noch immer Schwanengesang, wie sie jetzt feststellte – wie hingehaucht lag dort ein alter Mann in einem sauberen Bett, die Hände über der Brust gefaltet. Er hatte kaum noch Haare und auch kaum noch Fleisch auf den Rippen; seine Gesichtshaut spannte sich derart über seinen Knochen, dass man die kleinen Blutgefäße erkennen konnte. Auf seinem Gesicht stand ein glückseliger Ausdruck. Er sang lächelnd einem jungen, zarten, beinahe ätherisch wirkenden Mädchen vor, das mit lauschend zur Seite geneigtem Kopf neben seinem Bett stand. Lily merkte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Tränen traten ihr in die Augen.
Herrgott, sie liebte dieses Bild. Sie wusste zwar, dass es in ein Museum gehörte, aber sie wusste ebenso, dass es ihr gehörte – ihr ganz allein –, und in diesem Moment entschied sie, dass sie es jeden Tag sehen wollte, bis an ihr Lebensende, eine Erinnerung an den endlosen Puls des Lebens, an sein trauriges Ende und seinen glücklichen Anfang und die Verschmelzung von beidem. Dieses Bild wollte sie, wenn es irgend ginge, bei sich behalten. Doch der Wert jedes einzelnen überwältigte sie noch immer.
Sie wischte sich die Augen.
»Sind Sie es wirklich, Mrs. Frasier? Mein Gott, wir hörten, Sie hätten einen Unfall gehabt, dass Sie schwer verletzt im Krankenhaus liegen. Geht es Ihnen wieder besser? So schnell schon? Sie sind noch ein bisschen blass. Möchten Sie sich nicht setzen? Darf ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«
Sie wandte sich langsam um und sah Mr. Monk im Türrahmen zu dem kleinen Ausstellungsraum stehen, über dessen Eichentür ein elegantes Hinweisschild hing. Er wirkte angespannt wie eine Gitarrensaite, man meinte fast, ihn vibrieren zu sehen. Er trug einen hübschen grauschwarzen Wollanzug, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte.
»Mr. Monk, schön, Sie wieder zu sehen.« Sie grinste ihn an, die zuvor noch verschleierten Augen wieder klar, und sagte: »Ach, das mit meinem Zustand war reichlich übertrieben. Es geht mir wieder ganz gut; Sie brauchen gar nichts für mich zu tun.«
»Ah, freut mich das zu hören. Sie sind hier. Ist Dr. Frasier auch da? Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Nein, Mr. Monk, es ist nichts. Die letzte Zeit war recht schwer für mich, aber jetzt geht es mir wieder gut. Ach ja, welches der Sarah-Elliotts ist Ihr Lieblingsbild?«
»Die Entscheidung« ,antwortete Mr. Monk wie aus der Pistole geschossen.
»Das mag ich auch sehr gern«, sagte Lily. »Aber finden Sie es nicht auch ein klein wenig deprimierend?«
»Deprimierend? Absolut nicht. Ich bin nie deprimiert, Mrs. Frasier.«
»Ich weiß noch, wie ich zu meiner Großmutter sagte, das gefällt mir; ich hatte damals gerade eine Menge Geld bei einer Wette auf ein Giants-Dallas-Spiel verloren. Ich war sechzehn und weiß noch genau, wie niedergeschlagen ich war. Sie hat nur gelacht und mir zehn Dollar geliehen. Das habe ich nie vergessen. Ach ja, und den Zehner habe ich ihr in der nächsten Woche wieder zurückgezahlt, nachdem ein paar Idioten darauf gewettet hatten, dass New Orleans San Francisco mit zwölf schlagen würde.« Lily war ganz in ihre Erinnerungen versunken.
»Sprechen Sie vielleicht über irgendwelche Sportereignisse, Mrs. Frasier?«
»Aber ja doch. Über Football.« Sie grinste ihn an. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich von hier fortgehen werde, Mr. Monk, und zwar nach Washington D.C. Und die acht Sarah-Elliotts werde ich mitnehmen.«
Er schaute sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Er wedelte mit den Händen, als wolle er sie abwehren. »Aber, Mrs. Frasier, es gefällt Ihnen doch sicherlich, wie wir sie hier ausgestellt haben und wie wir uns um sie kümmern; die Restaurierungsarbeiten sind unbedeutend, kein Grund zur Sorge …«
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