Das Verlies der Stuerme
PROLOG
D er Wind pfiff scharf über den Innenhof, als Akse das Kloster Sonnenflut zum ersten Mal betrat; in ihm konnte er das nahe Meer schmecken. Der Herbst war gekommen, und mit ihm sein fünfzehnter Geburtstag und der Rauswurf aus dem Kloster Dherrnschlag. Nun hatte sein Vater ihn hierhergeschickt, mit einem versiegelten Brief und der Drohung, ihn zu enterben und aus der Familie auszuschließen, wenn er erneut die nötige Disziplin vermissen ließe.
Voll Staunen betrachtete Akse die langen Stallungen, die ihren Ausmaßen zufolge mehrere Dutzend Drachen beherbergen mussten. Sonnenflut war um so vieles größer als Dherrnschlag, beeindruckender. Hier wollte er bleiben. Er schielte in alle Richtungen, ob er nicht einen Drachen sehen konnte, doch vergebens. Ihr Schnauben und Scharren vernahm er durch die offenen Fenster. Schon wollte er hinüberrennen, da erinnerte er sich wieder an die Worte seines Vaters und sein Versprechen, fügsam zu sein und zu tun, was von ihm erwartet wurde. Also ging er schnurstracks in das Hauptgebäude, wo der Abt ihn erwartete. Jetzt, und nicht in einer halben Stunde.
»So, so«, sagte der Hohe Abt Khelchos, nachdem er den Brief zweimal gelesen hatte. Er war ein älterer Mann mit lustigen Pausbäckchen und einem Lächeln auf den Lippen. Doch als er Akse musterte, lag in den Augen Strenge, fast schon etwas Unerbittliches. »Hier steht, du hast dir
eine bunte Flickenhose angezogen, um wie dieser Samothanbeter Ben auszusehen, der überall gesucht wird, und hast deinen Kameraden verleitet, sich wie sein Verbündeter Yanko herzurichten. In dieser Aufmachung seid ihr quer durch Dherrnbruck gerannt. Was sollte das? Wärst du gern ein Samothanbeterr? Oder geächtet?«
»Nein, Herr!«, sagte Akse schnell. Hatte sein Vater nicht geschrieben, weshalb er es getan hatte? »Es war lediglich eine Mutprobe. Ich hatte mit anderen Knappen gewettet, dass ich …«
»Eine Wette, so, so«, unterbrach ihn der Hohe Abt scharf. »Du bist also der Ansicht, diese Steckbriefe sind für deine Belustigung da?«
»Nein, Herr.« Akse neigte demütig den Kopf. Disziplin und Gehorsam, er hatte es seinem Vater versprochen. Auf keinen Fall würde er hinausgeworfen werden, noch bevor der Abt ihn überhaupt angenommen hatte. Er musste schweigen, selbst wenn der ihm die Worte im Mund verdrehte.
»Gut.« Noch immer lächelte der Abt, und noch immer hatte das Lächeln seine Augen nicht erreicht. »Wenigstens scheinst du einsichtig. Dein Vater schreibt, du hast ein Problem mit dem Gehorsam, und bittet, ob ich mich nicht darum kümmern könnte. Das will ich gern tun, und ich hoffe, du willst das auch. Sag mir also frei heraus: Willst du Gehorsam lernen?«
»Ja, Herr.« Akse blickte den Abt möglichst treuherzig an. Er wollte Drachenritter werden, weil er auf so einem herrlichen Geschöpf sitzen und sich von ihm durch die Lande tragen lassen wollte, nicht um fraglos Befehle zu befolgen. Doch so schwer es ihm fiel, er würde sich um fügsames Verhalten
bemühen. Wäre er irgendwann erst allein mit seinem Drachen unterwegs, war er frei und konnte tun und lassen, was ihm beliebte.
»Gut«, sagte der Hohe Abt. »Ich schulde deinem Vater noch einen Gefallen, und so werde ich dich hier aufnehmen und dir Gehorsam, ritterliches Pflichtgefühl und Demut beibringen. Ich werde nicht so schnell aufgeben wie der Abt von Dherrnschlag; bislang habe ich noch aus jeder Rotznase einen strammen Ordensritter geformt. Mit Geduld und den notwendigen Strafen. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Herr.«
»Gut«, sagte der Abt zum dritten Mal. »Dann darfst du dich jetzt entfernen. Bruder Sieghold, zeig dem neuen Knappen sein Quartier.«
»Ja, Herr«, sagte einer der beiden Ritter, die während der Unterredung reglos an der Tür gewacht hatten.
»Noch etwas, Akse«, hielt ihn der Abt zurück. Das Lächeln war nun aus seinem Gesicht verschwunden. »Komm niemals auf die Idee, einen Kameraden zu solchen Verkleidungsspielchen wie in Dherrnbruck zu inspirieren. Wir sind nicht so verweichlicht wie sie. Wenn hier jemals ein solcher Ben auftaucht, wird er gehenkt. Sofort und mit dem größten Vergnügen. Mir ist es dann egal, ob es sich um einen falschen oder echten Samothanbeter handelt. Mit Hellwah und den Grundsätzen unseres Ordens wird kein Schindluder getrieben. Von niemandem. Hast du verstanden?«
Akse schluckte.
»Gut.« Der Abt lächelte wieder.
ERSTER TEIL
WELLEN
GÜLDENES GESCHMEIDE
D u musst dich im Sprung nach links drehen, das hält
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